Der Turm
die einer Kutscherin auf einem von wilden Pferden und stocksteiniger Straße hin- und hergeworfenen Kutschbock zu gehören schien, die schreiend auf ihr Ziel zuhielt, begleitet vom Jaulen des Boxerhundes und vom rhythmisch versetzten Ächzen der Matratzenfedern, darunter das Grunzen eines Kutschers von der Konkurrenz, Toresschluß! Sperrstunde! Nachtwächterhorn, und manchmal kreischte die Operntragödin, weil der Hund sein Herrchen zu retten versuchte. Andere hielten André Tischer für einen geheimnisvollen Westdeutschen, denn er sprach keinen Dialekt, aber Richard winkte ab und erzählte eine ganz andere Geschichte: Der junge Tischer war der Sohn eines Arztehepaars, das in Blasewitz gewohnt hatte; der jüngere Bruder von André habe eines Tages, vor etwa einem Jahr, als die Eltern nach einem anstrengenden Dienst fest schliefen, mit Streichhölzern gespielt und dabei das Haus in Brand gesteckt, André sei außerhalb bei Freunden gewesen; die Nachbarn, ein Geiger in der Staatskapelle und ebenjene Operntragödin, hätten den Brand bemerkt und zu löschen versucht; vergebens. Die Stadt habe André, der keine Verwandten hatte und zunächst bei der Operntragödin untergekommen war, diese Wohnung zugewiesen. Er arbeite jetzt als Krankenwagenfahrer am St. Joseph-Stift.
Stimmen, oben: Manchmal sangen die Stenzel-Schwestern mit ihren brüchigen Sopranen, So nimm denn meine Hände oderEhre sei Gott in der Höhe, es klang wie die vorsichtige Fühlungnahme mit einem Kind, und wenn es bei offenen Fenstern geschah, konnte es sein, daß Griesel die Elektroschnur aus seinem zum Garten gelegenen Keller zog, um sie in die froschartige Rasenmähmaschine zu stecken. Er mochte an das Wort vom Hirten denken und an die Herde auf seiner Weide, und wenn der Hirte aussah wie Pfarrer Magenstock, mochte es um so unverzeihlicher sein, daß Schäfchen die Hände falteten und beteten unter Kanzel-Wohlrede und Salbungsaugenblau; daß erwachsene Menschen kindlich wurden. Die Schwestern Stenzel gingen in harnischartigen Kleidern in die Sonntagspredigt von Pfarrer Magenstock, die rostigen Broschen: straßbesetzte Orchideenblüten und mit roten Glasperlen bestückte Kranichkronen, die sie sonst auf ihren vielfach ausgebesserten Crêpe de Chine-Blusen trugen, hatten sie abgelegt: Frevel ist es, das Haus des Herrn mit anderem Schmuck zu betreten als Seinem Zeichen, und hoben die rheumaknotigen, faltigen Finger nach diesem strengen und keuschen Wort, das Christian Eindruck machte; und nur ein großes blankes Silberkreuz lag beim Kirchgang auf der Brust, das unter den forschen Schritten der Stenzel-Schwestern leise gegen die Blusenknöpfe schlug. Sie lächelten friedlich, nickten den Entgegenkommenden zu, die ihnen auswichen. – Ja, es gibt sie, die sächsische Schwermut! hörte Christian Tante Barbara im Flüsterton sprechen, wenn sie den Schwestern begegneten, und dabei öffneten sich ihre Finger wie eine Springkrautkapsel; sie bejahte stumm und mochte an versäumte Pflichten denken, an Gelegenheiten, die über den flachen Hüten der Schwestern lockten, den Gesichtsschleiern, die aus weitmaschiger Gaze mit mottengroßen weißen Punkten bestanden, unter denen die rotgeschminkten Münder brannten, den Haarnetzen und den im Grüßen erhobenen Händen, die mauvefarbene Handschuhe trugen; Tante-Barbara-Geheimnisse, die im zähnezeigenden Lächeln, im andeutenden Neigen der Köpfe schwelten. Die Bilder im Treppenzylinder rückten die Schwestern mit zärtlicher, rührender Behutsamkeit gerade, als ob sie von Liebhabern stammten oder Brüdern im Geiste, sie stiegen samstagmorgens, wenn sie ihre Übungen beendet hatten – Kitty, die älteste Schwester, »müllerte« im Garten der Hoffmanns; »müllern«: nach einemTurnlehrer der Vorkriegszeit –, wenn die Federkissen und Steppdecken auf den Fensterbrettern lüfteten, in den Treppenzylinder hinunter, um die Gemälde und Schaukästen zu säubern; dazu benutzten sie Staubwedel aus Straußenfedern (»das Beste, was es gibt, Krest-jan, noch aus dem Kaufhaus Renner«), die von vierzig Jahren Flusenfangen kreppig und mißfarben geworden waren; erst beim Reinigungsmittel waren die Schwestern moderner, ließen einen Tropfen »Fit« in das Putzwasser klimpern, das genügte für die verschnörkelten Rahmen aus goldbronziertem, von Würmern pietätlos punktiertem Lindenholz, das nach der Waschung mit Bergamotte-Öl abgerieben wurde – wie auch, auf der obersten Etage, die Blätter einer unter Lichtmangel ins
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