Der Turm
sein Gesicht wieder. »Gehen wir! Wenn wir Eschschloraque schon überraschen, dann wenigstens pünktlich.«
Der Kosmonautenweg verlief in abschüssigen Windungen und endete als Sackgasse an einer Stiege, die für Autos unpassierbar war und durch wildromantisches, von Mauern abgestütztes Waldgebiet hinunter zur Pillnitzer Landstraße führte. Im Winter war die Stiege glatt, wer hinaufwollte, mußte sich mühsam am Geländer hochhangeln und seine Besorgungen, die er in der Stadt hatte machen müssen, wie ein Bergsteiger in einem Rucksack schleppen, um beide Hände freizuhaben. Im Sommer roch es nach Moos, war feucht und schluchtkühl in dieser Stiege, die zwischen Eschschloraques Haus und einem bewachten Grundstück einschnitt, dessen Einfahrt ein breites Eisentor schützte; man hatte den Park verwildern lassen. Es wurde gemunkelt, daß Marn, der Vertraute des Sicherheitsministers, sich von den Strapazen seiner hauptstädtischen Verpflichtungen hier zu erholen pflegte. Eine weitere Stiege verband den Kosmonautenweg mit den höhergelegenen Bezirken Ostroms, sie war kaum breit genug für einen Fußgänger und jetzt im Herbst, wenn die Regen begannen, voller moderndem Laub, auf dem man leicht ausrutschte; das Geländer war vermorscht und auf längeren Strecken ganz weggebrochen.
»Wie geht’s eigentlich Ihrem Neffen?«
»Nicht besonders, nehme ich an. Er muß bald zur Armee, drei Jahre.«
»Ich denke gern an den Abend bei Ihnen im Garten zurück«, sagte Schevola nach einer Weile. »Ich fand Ihren Neffen – er heißt Christian, nicht wahr? – auf eine merkwürdige Art nett –«
»Was soll das heißen: auf eine merkwürdige Art? Vergreifst du dich jetzt schon an grünem Gemüse?« Philipp lachte, aber es klang nicht echt.
»Sehr charmant seid ihr Revolutionäre. Aber Revolution ist für euch sowieso nur ein Männerding.«
»Wenn es ans Kämpfen geht, schon.«
»Ja, und eure Frauen stellen inzwischen daheim die Pantoffeln für euch zurecht. Mit merkwürdig nett meine ich, daß ich normalerweise nie einen Mann, den ich als nett bezeichne, ganz ernst nehmen könnte. Ihr Neffe ist nett, aber ich nehme ihn trotzdem ernst, das finde ich merkwürdig. Er scheint viel zu wissen. Vielleicht ein wenig zuviel für sein Alter. Und er übt eine Anziehung auf Frauen aus. Das scheint er interessanterweise nicht zu wissen.«
»Sie brauchen ihm diesen Floh auch nicht ins Ohr zu setzen«, warnte Meno schroffer, als er gewollt hatte.
»Keine Angst«, erwiderte Judith Schevola, »ich glaube nicht, daß er bedenkenlos und animalisch genug ist, um mit Frauen ins Bett zu gehen, die doppelt so alt sind wie er und also seine Mutter sein könnten. Es gibt Männer, die gewissermaßen immer mit ihrer Mutter ins Bett gehen, und solche, die das hassen. Er dürfte eher zu dieser Kategorie gehören.«
»Junges Gemüse strebt zu jungem Gemüse!«
»Wie taktvoll du bist, Philipp. Mit reiferen Frauen könnten junge Männer lernen, was Sinnenglück und Diskretion ist. Die Lust zum Kriegspielen würde ihnen vergehen.«
»Du hast eine unangenehme Art, andere Menschen einzuschätzen«, bemerkte Philipp gekränkt, »oft baust du auf bloßen Äußerlichkeiten auf.«
»Komm mir doch nicht mit Tiefe, Genosse Professor. – Revolutionäre! Kaum kratzt man ein bißchen am Lack, kommt ein Einfamilienhäuschen zum Vorschein. Und eine Küche mit Herd und rotweiß gewürfeltem Tischtuch, auf dem derGemütlichkeits-Samowar herzwärmende Getränke zum Kuchen liefert.«
»Das unterstellst du mir? Mir? Spießertum? Ich glaube, dir müßte mal jemand den Kopf geraderücken.«
»Das wollen viele, mein Lieber, keine Sorge. Übrigens kannst du deine kleine Chilenin ruhig mal mitbringen. Bürgerliche Moralvorstellungen fand ich noch nie besonders spannend.«
»Wir wären da«, schlug Meno vor.
Eschschloraques Haus war an den Hang gebaut. Eine schadhaft aussehende Brücke mit Kanonenkugeln in Eisenkörben, zwischen denen Ketten als Geländer liefen, führte vom schmiedeeisernen Tor, obenauf eine verbogene Bienenlilie, zur ersten Etage des zwischen düsteren Fichten verborgenen, fremdartig wirkenden Baus. Die Peitschenlaterne an der Stiege zur Pillnitzer Landstraße erhellte fahl den Giebel und einen Teil des Daches, das, mit ornamentierten Schindeln gedeckt, schuppig wie Drachenhaut wirkte. »Haus Zinnober«, murmelte Judith Schevola die Inschrift nach, die zwischen Fachwerkbögen unter einer rostig knarrenden Wetterschlange geschrieben stand.
Eschschloraque
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