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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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der begleitende Unteroffizier hatte uns verboten, uns unterzustellen. Ich fuhr mit der letzten Rate mit, es war schon dunkel, und wir schwiegen (man sollte nie eine Gelegenheit zum Schweigen ungenutzt verstreichen lassen, sagte der Unteroffizier mit wissendem Lächeln); ich saß an der Ladeklappe und konnte mich umsehen. Am Horizont der Widerschein von Industriegebieten, Hochofenabstiche lecken am Himmel, das Land ist flach, scheint hier eine Scheibe zu sein, nur wenige verkrüppelteBäume stehen wie frierende Posten am Rand der Tagebaue. Der LKW verließ die Stadt, die Straße wurde immer weniger befahren, dann sah ich den Ort Schwanenberg wie eine Raumstation sich entfernen (dabei entfernten wir uns ja, aber ich hatte das Gefühl, der LKW würde stillstehen und die bewohnten Gebiete würden von uns weggezogen), hier und dort ein paar Lichter, Positionslampen von Braunkohlebaggern, die sich wie Urzeittiere bewegen, äsende Mastodons in der Dunkelheit. In der Luft ist ein metallisches Singen, unterbrochen, wenn die Bagger versetzt werden, vom Quietschen ihrer rostigen Gelenke, man muß sich erst daran gewöhnen, es hallt über das Land und bricht sich nachts am Beton der Wohnblöcke in der Unteroffiziersschule. Dann Gerüche, die Erde riecht nach Metall, die Luft nach Feuersteinen, die man gegeneinanderschlägt; in Schwanenberg gibt es eine große Süßwarenfabrik, und wenn sie Schokolade abgießen, wabert der Geruch bis zu uns in Flur und Stuben, man kann sogar die Liköre unterscheiden, die sie für die Pralinenfüllungen verwenden. Dann, je nach Windrichtung, legt sich Kakaostaub auf Tische, Hocker, Betten, so feinverteilt, daß man ihn nicht sammeln kann.
    Die Schule liegt mitten im Braunkohlenland, kein Haus, kein Baum in der Umgebung, Sträucher nur entlang der Anfahrt. Ein weitgedehntes Areal, hellgraue, fast weiße Betonplattenstraßen, die von Trupps mit Weidenreiserbesen gefegt werden. Dieses Scharrgeräusch, das Luftsingen von den Baggern, Krähengequarr, an Sonntagen Viervierteltakt aus den entlang der Objektstraßen aufgestellten Lautsprechern und die gebellten Kommandos sind unsere tägliche Musik. Wohnkästen, ein hektargroßer Exerzierplatz gleich vorn am Eingang (heißt hier KDL – Kontrolldurchlaß), ein paar niedrige Gebäudequader im Hintergrund, Wachttürme an den Ecken, Stacheldrahtzaun, eine Blumenrabatte vor dem Stabsgebäude: willkommen im Ausbildungszentrum Q »Hans Beimler«. Nach dem Absitzen mußten wir antreten, ein anderer Unteroffizier führte uns in eine Halle, wo eine zentrale Anwesenheitskontrolle durchgeführt wurde. Zu jedem Namen wurde die Einheit und die Nummer des Unterkunftsgebäudes geschrien; ich kam in den Block 1, ein Quader mit hunderten Fenstern in den Längsseiten und hundertMeter langen (132 Meter genau, das ist vor Generationen schon ausgemessen worden) Fluren, mit schwarzweiß gesprenkelten, spiegelglatt gebohnerten Granitplatten belegt. Die schwarz- und weißen Sprenkel sind regelmäßiger verteilt als auf Doggenfell und sehen deshalb nicht schön aus. Wir hatten allein zu gehen. Kein Mensch zu sehen, Stille, Neonröhrenlicht, in der Mitte des Flurs ein einfacher Tisch und zwei Schemel, darüber eine mit rotem Tuch bespannte Wandzeitung mit der Aufschrift »Fachrichtung Panzer / Einheit Fiedler«, darunter ein großformatiger Tagesdienstablaufplan, ein Geburtstagskalender und eine Parole: »Je stärker der Sozialismus, desto sicherer der Frieden!«
    Direkt vor mir fliegt eine Tür auf, ein Mann in Tarnuniform tritt raus und schreit, daß ich die Tasche nehmen und ihm folgen soll. Er führt mich in einen kahlen, nicht allzu großen Raum, Tisch in der Mitte, daran ein weiterer Mann in Tarnuniform mit auffällig mongoloiden Zügen und ein bebrillter Mann in Tuchuniform, blaß, fischhaft, Tasche auspacken, befiehlt Fisch. Der Mongole packt die Tasche an, wahrscheinlich bin ich ihm zu langsam, und schüttet sie aus. Wäsche, ein Karton, damit ich die Zivilkleidung zurückschicken kann, meine Bücherkiste. Wassendas, fragt Fisch. Es sind Bücher drin, sag’ ich. – Aufmachen. Er steht sogar von seinem Stuhl auf und kniet sich hin, denn der Mongole hat die Bücher ziemlich weit verstreut, wodurch er mir nicht sehr sympathisch ist. Bei Tolstoi, Lew Nikolajewitsch faßt sich Fisch an die Brille. Nach Hause schicken, umgehend. Die Kiste ist vorschriftswidrig. So viele Bücher können Se sowieso nich lesen. Oder brauchen Se’s zum Scheißen? Feldwebel Rehnsen (so der Name

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