Der Turm
gesprochen, von Zeit-Ellipsen und Zeit-Klecksen), dieser Zeit-Klecks also würde aus ungeheuren Aromen die Essenz des Herbstes saugen: das waren Gerüche (für Christian begann der Herbst, der Oktober, der Monat seiner Geburt, mit Gerüchen: der Duft nach altem Brieftaschenleder, der aus den Lamellen von Pilzen stieg, der Geruch nach Pferden, der aus nassem Laub kam, die ohnmächtige Süße des Obsts in den »Anker«-Gläsern, die in den Einweckkesseln erhitzt wurden), das war hier- und dorthin gestellte, nervöse Hast, durchkreuzt von den Linien eines Haubentauchers in der blanken, schläfrig erzitternden Ruhe der Schlösser von Pillnitz, das waren wild hüpfende Bilder (Zitronenstäbe, Spinnensterne in den Bäumen, feuchtes Schwemmholz an den Ufern der Elbe, Moder, Moosgrün in vergessenen Kanalisationsrohren und zwischen den Mauerfugen an der unteren Rißleite, das Korallenrot der Ebereschenbeeren, Pfauenaugen auf dem ergrauten, sonnengewärmten Holz einer Fensterbank, die feinporige, an den Kanten leicht gelockte Stille einer Gießkanne in einer Gartenecke, kleine durchsichtige Kamele aus Wärme, dievon Heizungsrippen an Sesseln und Kanapees vorbei in Richtung Türritzen verschwanden); und dabei hatte der Apfel Makel und »Strumpfstellen«, wie es Barbara nannte: schuppige Kerben, die von Wuchsfehlern oder Schädlingen herrühren mochten, also würde er den Apfel nicht anbeißen, sondern mit einer japanischen Klinge aufschneiden, würde sich an dem Wasser des Schnitts ergötzen (der Stahl würde sich von der Apfelsäure blau färben und angenehm bitter schmecken), er vierteilte die Frucht nicht, wie es alle anderen taten, die er bisher beim Apfelessen beobachtet hatte, sondern schnitt den Apfel quer in fingerdicke Scheiben (Reina sagte, so hätte sie noch nie jemanden einen Apfel schneiden sehen),
Reina
bei einem Wirte wundermild, da war ich jüngst zu Gaste, murmelte er auf der Stiege zum Dachboden vor sich hin, Verse aus der Schulzeit, aus irgendeinem Lesebuch im Gedächtnis geblieben, Uhland hatte der Dichter geheißen, der seine durstige Kehle an einem Apfel gelabt hatte,
denk jetzt nicht
Reina
dachte er und hatte den Kampf mit dem Dachboden aufgenommen, haßte plötzlich die Stille und das Kupferrot der Pfetten, die Tontöpfe und die Korkschwimmgürtel der Stenzel-Schwestern, die ihnen – dann trugen sie mit Gummirosen bestückte Badekappen – beim Schwimmen im Massenei-Bad halfen, spürte Wut gegen die verrosteten, zentnerschweren Heizkörper neben Griesels Dachkammer, daß sie hier den Erinnerungen des Staubs zuhören konnten und nichts brauchten; er schloß die Hoffmannsche Dachkammer auf, öffnete den Koffer mit den Filmzeitschriften, nahm sein Taschenmesser, und hieb es mitten ins Gesicht des Mädchens auf Fanö, scharf ausgeleuchtetes Schicksals-Schwarzweiß auf einem der Programme, sah ein verlassenes Wespennest und dachte an den Apfel, das hungrige Rot, das die übrigen Gegenstände der Küche anzusaugen schien, brach ab, ging in die Wohnung hinunter, raffte seine Sachen zusammen, ließ den Apfel unberührt
… und begriff für Momente nicht, wieso der Neustädter Bahnhof in Sicht kam, wieso die 11 langsamer wurde und hielt; ersah die Wartenden auf dem Dr. Friedrich Wolf-Platz schon von weitem, eine buntscheckige Masse, die von ankommenden Autos und taschenbepackten jungen Männern, wie er einer war, genährt wurde; sie staute sich vor den Bahnhofseingängen, und als er ausstieg, hörte er Rufe und Gegröle schon von der Haltestelle aus, die der großflächige, Himmelsbläue spiegelnde Platz vom Bahnhof trennte.
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Rosa ist die Waffenfarbe
Genosse Soldat! Genosse Matrose! Ein neuer Lebensabschnitt liegt vor Ihnen – der aktive Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee. Durch Ihre Arbeit, Ihr Lernen haben Sie bereits unsere sozialistische Gesellschaft mitgestaltet. Jetzt verwirklichen Sie ein verfassungsmäßiges Grundrecht als Soldat, erfüllen Sie Ihre Ehrenpflicht, Frieden und Sozialismus gegen jeden Feind zuverlässig zu schützen
vom sinn des soldatseins
Ausbildungszentrum Q/Unteroffiziersschule Schwanenberg,
9. 11. 84
Liebe Eltern: 1000 Tage, aber die ersten sind vorüber. Vom Schwanenberger Bahnhof wurden wir in mehreren Raten zu je 30 Mann in die Kaserne gefahren. Es gab nur 2 LKW, so hatten wir 4 Stunden vor dem Bahnhof auf einem gepflasterten Platz an der Verladerampe zu stehen, hatten uns auf unsere Koffer und Taschen gesetzt, damit die im Nieselregen nicht so naß wurden;
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