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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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(vielleicht habe ich mal Zeit im Urlaub für einen Zwinger-Besuch, war lange nicht mehr da), die Krausewitzens, Herrn Dietzsch und Herrn Marroquin, an den ich während unserer Einkleidungszeremonie, genannt »Maskenball«, denken mußte. Ihr Christian Hoffmann

    AZ Q/Schwanenberg, 28. 11. 84

    Liebe Eltern: Euer Paket hat mich gestern wohlbehalten erreicht, vielen Dank für die Mühe und den Aufwand. Die Äpfel sind schon wieder alle. Bitte in die Pakete nichts stecken, das auch nur entfernt nach Westen riecht. Die Pakete müssen beim Spieß (so heißt der Mann, der sich um Bekleidung, Ausrüstung, Post, Essensbelange etc. kümmert) geöffnet werden, und alles, was nach Fühlern aussieht, die »der Gegner« nach unschuldigen Unteroffiziersschülern ausstrecken könnte, wird beschlagnahmt, und sei es eine Mücke, die von drüben ist. Könntest Du mir, liebe Ma, vielleicht eine Flasche Rasierwasser besorgen? Aber nicht »Dur«, das es in der hiesigen MHO gibt – bzw. eben nicht mehr gibt, seitdem uns einer der BU (Berufsunteroffiziere, die unsere Fahrausbildung leiten) verraten hat, daß »Dur« »Umdrehungen« (höhere Prozente) hat. Selbigen Abends waren Irrgang und Breck besoffen und dürfen jetzt Strafwachen schieben. In der Drogerie habe ich letztens noch ein paar Flaschen »tüff« gesehen, das vielleicht.
    Gestern war ich »Küchenschabe«, d. h., ich hatte Küchendienst. Mich verschlug es an finsteren Ort, die sog. Topfspüle, das Zentrum real existierender Abwascharbeit. Der Dienst beginnt um 18 Uhr, man bekommt sog. Hygienekleidung (Graukittel, die merkwürdige Pulverschmauch-Löcher haben, vielleicht von unbekannter Motten-Spezies? und von den Köchen hin und wieder als Taschentuch benutzt werden). Man arbeitet bis 22 Uhr. Am nächsten Tag geht es um 4.30 Uhr weiter bis wiederum 18 Uhr. Die Topfspüle ist der Ort wahrhafter Empfindungen. Töpfe sehen aus wie Funktionäre, die sich den Hintern verbrannt haben, dieses gewisse Lederhosige, das Meno einmal andeutete, auch sind Ohren dran, labbrig wie Marzipanfahnen, Dampf strömt aus, und beim Schrubben flattern sie. Die Topfspüle kennt die Feinheiten des Mischobstkessels, der leer aus dem Interhotel (die Kantine vorn) zurückkehrt, und den wir Küchenschaben vorher gefüllt haben.
    Man nehme:
    150 Gläser Mischobst-Konserven,
    einen Blechtrog mit Fassungsvermögen ca. 1 m 3 ,
    das »Krokodil«: ein Riesen-Multifunktions-Rühraggregat, das von zwei Küchenschaben gehalten und dessen Kurbel an der jetzt mit Rührarmen bestückten Rührtrommel von weiteren zweien gedreht werden muß. Das Krokodil verschafft den Mischobstkonserven im Mischobstkonserventrog jene musige Konsistenz, die am Mischobst so begehrt ist und den Küchenschaben, die den Trog ins Interhotel vorn schleppen müssen, höchste Komplimente einbringt, die sie in der Regel mit vorsichtigem Erheben des Mittelfingers erwidern. Die Topfspüle kennt die Vorzüge des Dampfstrahlschlauchs, auch als »Kobra« bezeichnet, jenes gelbschwarze Etwas, das hin und wieder unbezähmbaren Freiheitsdrang verspürt und sich unter pfeifend entweichendem Dampf selbständig macht. Dann müssen wir, die beiden Topfspülen-Küchenschaben, »zum Fakir werden« und »der Kobra die Flötentöne beibringen«, heißt: unter den wilden und kochheißen Schlängeltänzen durchkurven und das Dampfventil am Eingang der Topfspüle drosseln, bis das Manometer daneben wieder gezähmte Werte zeigt. Die Topfspüle allein bietet dem Betrachter den Anblick der »Cacerlaca superdimensionalis«, kurz »Super-Kack« genannt, die in Pfannen und Kesseln, Bottichen und Kübeln nach den Resten der Komplekte sucht – und das ohne Schulterstücke und Hygienekleidung! Wer diese Armeeangehörigen sieht, muß »Mondkalb« rufen. Mondkalb ist der Küchen-Ghul, ein Berufsunteroffizier, der seine 10 Jahre längst abgedient hatte, draußen aber nicht mehr zurechtkam und reuig in seine gewohnte Umgebung zurückkehrte. Er wirft regelmäßig Popel in die Eintopf-Kessel, geht gebeugt und trägt den Hygienetornister, an dessen Seite sich ein Hebel befindet, der »so ’n Zeugs« sprüht. Normalerweise müssen wir dann eine Stunde Abzug machen und dürfen die Topfspüle nicht betreten. Mondkalb aber sprüht nur pro forma, die Kakerlaken liegen auf dem Rücken und lachen. Euer Christian

    AZ Q/Schwanenberg, 2. 12. 1984

    Lieber Meno: Heute ist 1. Advent, und bei Euch werden die Lichter brennen. Ich danke Dir für Dein Angebot, aber schicke mir bitte keine

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