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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Bücher. In den wenigen freien Stunden kommeich doch nur zum Briefeschreiben oder muß Schlaf nachholen. Ich hatte eine Bücherkiste dabei, die mußte ich zurückschicken. Es ist auch nicht ratsam, allzuoft mit einem Buch in der Hand gesehen zu werden. Dann gilt man als »Brille«, und »die Brille glaubt, was Besseres zu sein«. Sie wird zur »Sonderbehandlung« freigegeben. Fisch (so nennen wir unseren Zugführer, ein Genosse Oberleutnant) schleift »Brillen« gern abends privat nach der Aktuellen Kamera auf der Sturmbahn. Übrigens trägt er selber eine Brille, was mich immer wieder irritiert (trägt Dummheit Brillen?). Auch unter den Kameraden Unteroffiziersschülern gibt es manche, die etwas gegen Bücher haben. Die Sonderbehandlungen gibt es von oben und von unten, letztere dienen der »inneren Erziehung« und werden von den Vorgesetzten stillschweigend geduldet. Eine solche innere Erziehung wurde vor ein paar Stunden Unteroffiziersschüler Burre zuteil. Er gehört nicht zur 4. Kompanie, in der ich ausgebildet werde (Panzerkommandanten), sondern zur 3., den Panzerfahrern, die einen Flur tiefer untergebracht sind. Mein Stubennachbar Irrgang und ich hörten Lärm und liefen runter. Einer der angehenden Panzerfahrer stand vor versammelter Mannschaft und las den übrigen ein Liebesgedicht vor, das Burre geschrieben hatte. Es war ein kitschiges Gedicht, mich reizte es zum Lachen wie die andern. Es verging mir aber, als Burre dem Vorleser an den Hals sprang. Der kleine, dicke Burre wurde von dem Vorleser mit ein paar Fausthieben niedergeschlagen (ein merkwürdiges Geräusch, ganz anders als in den Filmen, wo Geräuschemacher nachhelfen), dann wurde Burre von vieren gepackt, in die Luft gehoben, Hosen runter, während der Vorleser sich Arbeitsfäustlinge und eine sog. »Bäfo« (»Bärenfotze«, so wird die Schapka genannt, die wir winters tragen) holt und ins Gejohle der Umstehenden schreit: Brötchen (offenbar Burres Spitzname) – jetzt spiel’n wir Sigmund Freud! Vater und Du, Ihr habt mir immer gesagt, daß ich genau hinsehen soll, so präzise wie möglich solle ich sein, solle versuchen, so exakt wie möglich das, was ich sehe, zu beschreiben. Aber ich habe Burres Gesicht nicht angesehen, nur sein Atmen gehört. Burre strampelt und versucht, mit dem Unterkörper auf- und abzuwippen, aber die vier Mann halten fest. Der Vorleser faßtBurres Glied mit dem Arbeitshandschuh, hält den Zettel mit dem Gedicht hoch, rezitiert (O Melanie, im Mond möcht’ ich dich küssen …), alles auf dem Flur, die übrigen Unteroffiziersschüler feuern den Vorleser an (Wichs ihn! Mal sehen, ob Brötchen ein’ hochkriegt! Na, wo isser denn?! Mensch, Fettsack, du stinkst wie Nutria!), der Vorleser drückt jetzt die Bäfo auf Burres Glied und beginnt zu »melken«.
    Ich ging zum Vorleser und sagte: Hör auf. Er glotzte mich an, als könnte er nicht verstehen, was ich meinte. Irrgang half nach: Ich will dich das ebenfalls mitteiln, Kamrad. Lassen doch in Ruhe. Die anderen lachten bloß, auch der Vorleser, dann machte er weiter. Er ist breit wie ein Kleiderschrank, ich wie der Schlüssel. Dann sagte Burre plötzlich: Och, mir geht’s ganz gut, laß die Idioten doch! Da lachten sie noch lauter. – Bitte erzähl’ den Eltern nichts von diesem Brief. Wahrscheinlich werden wir über Weihnachten keinen Urlaub bekommen, da für uns eine »Wachkomplex I«-Woche mit GWA (»Gesellschaftswissenschaftliche Ausbildung«) angesetzt wurde. Wie geht’s dem Kleinen von Stahls? Wie geht’s im Verlag? Arbeitest Du noch am Schevola-Buch? Salve! grüßt Christian

    tarif militaer/Schwanenberg, 4. 12. 84
    lieber pa: herzliche glueckwuensche zum geburtstag +++ konnte leider kein geschenk besorgen +++ ruecken ins feldlager aus +++ brief folgt +++ alles liebe christian

    AZ Q/Schwanenberg, 16. 12. 84

    Liebe Eltern: Heute habt Ihr 3 Kerzen angezündet, und ich will Euch den versprochenen Brief schreiben. Vielen Dank für Euren, der mich noch im Feldlager erreichte. Liebe Ma – ich habe nicht nachgedacht, bitte entschuldige. Ich hätte mir überlegen müssen, was Euch für Gedanken durch den Kopf gehen, wenn der Telegrammbote vor der Tür steht. Aber ich wollte doch Pa noch zum Geburtstag gratulieren, und für einen Brief war keine Zeit mehr.
    Es könnte sein, daß sie die Briefe lesen, aber es ist mir egal. Ich weiß, daß es verboten ist, so offen über die Dinge hier zuschreiben. Wenn Ihr Euch beschwert und gefragt wird, wie Ihr an die Informationen

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