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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Aktuelle Kamera, die wir im Clubraum sehen, den wir sonst nicht betreten dürfen. Täglich sieht man also wenigstens einmal Zivilsachen. Einmal wöchentlich ist Duschen, zugweise betritt man eine Duschhalle, jeweils 200 Mann stellen sich unter 150 Duschen und haben 10 min Zeit, sich abzuseifen und abzuwaschen – wenn die Unteroffiziere, die die Duschanlage betreuen, sich nicht einenSpaß erlauben und mittendrin das Wasser abstellen oder nur noch kaltes laufen lassen. Es sind EK (Entlassungskandidaten), die haben Narrenfreiheit; wir sind »Frische« und »Befehlsempfänger«. Es grüßt Euch alle Christian, auf dem Weg zur AESPE (Allseits Entwickelte Sozialistische Persönlichkeit)

    PS: Natürlich übertreibe ich, sonst würdet Ihr mir am Ende noch glauben!

    Schwanenberg, 25. 11. 84

    Sehr geehrte Frau Dr. Knabe: Vielen Dank für Ihr Schreiben vom 23. d. M., das meterlange Paket mit der Broschüre »Deine Zahngesundheit«, die Sie und Prof. Staegemann herausgegeben haben. Odile Vassas und Dr. Vogel vom Hygienemuseum haben sich große Mühe gegeben. Der Zwerg Kundi ist wirklich gut zu erkennen, desgleichen seine Feinde Dreckfinger, Stinkfuß, Tropfnase, Schwarzohr und eben Faulzahn. Wenn sie in den sozialistischen Kindergarten eindrangen, war Kundi mit Zahnpasta-MPi und Waschlappen-Granate zur Stelle. Ich glaube, jede Dresdner Schulklasse hat die Trickfilme mit dem Zwerg gesehen; ich erinnere mich, daß er kontrolliert hat, ob seine Appelle auch wirklich befolgt wurden – er sah die faulen Kinder auf einem Kontrollmonitor, hatte ein Telefon, um die Erzieherinnen zu informieren, und ein magisches Fernrohr. Wenn er es auf die Unteroffiziersschule richten würde, könnte er unsere Ernährungsgewohnheiten studieren: Wir gehen (aber gehen bedeutet rennen, der Laufschritt ist die natürliche Fortbewegungsform des Armeeangehörigen) ins »Interhotel«. An langen Sprelacart-Tischen, auf Schemeln, nach der höflichen Aufforderung, bitte Platz zu nehmen und »das Essen durchzuführen«, beugen wir uns über die »Komplekte«, schlürfen feinsten ungezuckerten, schwach an Pfefferminze erinnernden Tee, dem man unter dem Spitznamen »Hängolin« oder »Impo-Tee« gewisse beruhigende Wirkungen nachsagt und den uns Kellner in Graukitteln mit ausgesuchten Manieren in Bottichen auf den Tisch stemmen; sonntags gibt es, wenn man sich etwas beeilt (und wer tut es nicht), heiße Milch und 1 Stück Kuchen zum Frühstück. Komplekte … Wie soll ich siebeschreiben? Du köstliches Gemisch aus Atombrot, Kosmonautengrütze und Standhaftigkeit gegenüber dem Aggressor! Nachgiebig wie Knete hängst du, du Freundin aus der Sowjetunion, dem Soldaten zwischen den Zähnen, sättigst ihn gründlich und sorgst für Darmgalopp. Sei umarmt, Geschmacksknospe! rufst du schon von weitem, und sei versichert, wir lieben dich auch. Wie schön ist es, rund, scharf und zufrieden wie ein Pfefferkorn dazuliegen, dann allmählich zum Ballon zu werden, dein knatterndes Lied im Traum zu singen, allen Ballast einfach loszuwerden – da rauscht er hin und wiehert nicht mehr. Alles fließt, die Komplekte aber durch Dick und Dünn. Schon ihr Duft vergoldet unsere Nasen, planscht nicht sinnlos in Dromedarpansen, taucht durch Kakerlaken, umkreiselt Fliegenpapierstreifen, zupft die aus Sülzwurst geschnitzte Balalaika, lispelt süßes Liebeslied durch den Auspuff eines Trabbis – und läßt am Ende nichts anderes als Mehlbomben fallen; sondern tanzt auf den Kongressen der Wiener Schnitzel, schwitzt Rosenöl und wirft, während sie den Großen Zeh ins Wasser des Lächelns tupft, unsere Hungerpropeller an. Komplex ist die Komplekte, ein wahres Wunder, und kein Koch, der auf Ehre hält, wird Ihnen je das Rezept verraten …
    Die Dachpappe (3 Rollen) geht in Ihrem Karton an Sie ab, desgleichen 1 Packung Dachpappennägel, die die Verkäuferin ebenfalls vorrätig hatte. Vom Tod des Staegemann-Sohnes habe ich von meinem Vater gehört. Daß mein Bruder Robert noch Klarinette spielen kann nach dem Ski-Unfall damals auf der Unteren Rißleite, verdankt er Prof. Staegemann. Der zersplitterte Schneidezahn wurde mit einer Technik aus dem Westen wieder aufgebaut (eine durchsichtige Flüssigkeit, die unter einer Lampe aushärtet; ich weiß noch, wie erstaunt Sie waren). Und was Sie mir von Muriel und ihren Eltern schreiben, klingt auch düster. Mein Vater sagte mir, daß gemeinsam ein Brief an die Pädagogische Ministerin geschrieben werden soll. Viele Grüße an Sie, Ihren Mann

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