Der Turm
Dienstgrad, gestatten Sie, daß ich wegtrete?
Genosse Dienstgrad, gestatten Sie, daß ich teilnehme?
Meldet sich Irrgang, mein Stubennachbar. Jenosse Feldwebel, ich hab’ mich da ma’ ’ne Frage! Was, wenn ich ma’ muß, und neben mich sitzt der Jenosse Oberleutnant auffer Brille? Jenosse Oberleutnant, gestatten, daß ich teilnehme?
Antwortet der Mongole: Der Schüler Hülsensack, Unteroffziersschüler Irrgang, wird nie neben dem Genossen Oberleutnant scheißen. Nicht in der Nationalen Volksarmee. Never ever.
Meldet sich Irrgang erneut. Da hab’ ich mich ma’ noch ’ne Frage! Wenn mich der Jenosse Oberleutnant begechnet, und mich der Jenosse nich gestattet, daß ich spreche, wie kann ich da fragen, ob ich vorbeigehen kann?
Der Mongole zuckt die Achseln, fährt fort im Stoff. Wir üben das Grüßen.
Meldet sich Irrgang neuerlich. Ich hab’ mich da ma’ ’nen wichtiget Problem! Wenn mich der Jenosse Oberleutnant begechnet, und daneben geht noch ’nen Jenosse Oberleutnant, also zwee Jenossen links und rechts und zur gleichen Zeit, soll ich mich dann beede Hände zugleich anne Denkwaffel klemm’?
Unteroffiziersschüler Irrgang ist an diesem Abend auf der Sturmbahn tätig.
Lieber Niklas, warst Du in der Semperoper? Wie sieht der Bau aus? Viele Grüße! Euer Christian
freut sich über Post.
AZ Q/Schwanenberg, 24. 11. 84
Liebe Eltern: Ina ist mit Herrn Wernstein verlobt?? Wie das! Vielen Dank für Eure Nachrichten und für das Paket. Das habt Ihr Euch aber was kosten lassen. Ich weiß gar nicht, wie wir auf dem Zimmer das alles aufessen sollen, ohne regelrecht fett zu werden! Liebe Ma, wenn Du mir Bücher schicken willst, bitte sie in das Papier einzuschlagen, das ich Dir gezeigt habe (die eingehenden Sendungen müssen für Kontrollen geöffnet werden).
Heute nun war der Tag der Vereidigung. Ich mußte nach dem öffentlichen Zeremoniell (hab’ beim Schwören die Finger gekreuzt) in dem innerhalb der Kaserne gelegenen »Haus der NVA« auf Befehl des Kompaniechefs einen Toast ausbringen (vorher hat er ihn auf Fehler und ideologische Unsauberkeiten durchgesehen), danach bin ich in unseren Block zurückgegangen und nicht mit nach Schwanenberg gefahren, so hatte ich wenigstens einen ruhigen Nachmittag, habe mich auf dem Klo eingeschlossen und konnte ein paar Briefschulden abtragen. Außerdem habe ich Schwanenberg schon vor ein paar Tagen gesehen, als ich in der dortigen Kaufhalle in Begleitung eines Unteroffiziers für den Kompaniestab einkaufen mußte. Schwanenberg ist Garnisonsstadt, vorwiegend kahl und rechteckig. Diese Eigenschaften besitzt seit dem »Maskenball« auch mein »Nischel«; aber die Haare wachsen ja wieder. Grüße an TanteIris und Onkel Hans, auch an Fabian. Und seid selbst gegrüßt von Christian
AZ Q/Schwanenberg, 25. 11. 84
Liebe Eltern: Robert denkt, ich übertreibe, wenn ich schreibe, daß wir nur sonntags drei Stunden Freizeit haben. Unser Tagesdienstablaufplan sieht mit kleinen Variationen so aus: 6 Uhr Wecken, dann Rot/Gelb/Trainingsanzug anziehen in 2 min, 6.02 Uhr raustreten, Frühsport bis 6.30 Uhr, einrücken ins Gebäude, waschen, anziehen, Sportsachen verstauen bis 6.40 Uhr, 6.40 Uhr antreten, im Laufschritt zur Objektkantine, Frühstück bis 7 Uhr, im Laufschritt zurück in die Kompanie, von 7-7.30 Uhr Bettenbau, Stubenreinigen, von 7.30 Uhr bis 15 Uhr Ausbildung, dazwischengeklemmt das Mittagessen (reinschlingen, was sonst), von 15-16 Uhr großes Stuben- und Revierreinigen (jeder hat ein bestimmtes Revier, das heißt eine bestimmte Räumlichkeit zu reinigen), von 16-18 Uhr Exerziertraining und eine zusätzliche physische Ausbildung (zu den morgendlichen 3000 m kommt die Sturmbahn, 500 m lang, mit 22 sog. Schikanen, dazu Gewichtstoßen mit dem 50-kg-Gewicht, Norm 16x, Übungen mit dem Panzerkettengewicht); Laufschritt zurück, Waschen geht nicht, 18.05–18.20 Abendbrot, danach tägliches Waffenreinigen sowie Pflege der persönlichen Schutzausrüstung (Schutzmaske und Schutzanzug), dazwischen Gemeinschaftsempfang der Aktuellen Kamera von 19.30 Uhr bis 20 Uhr, von 20 Uhr bis 21.30 Uhr Außenarbeiten (Panzerreinigung, Anstrich von Zäunen, Rasenpflege, wenn der Mongole Lust hat, mit der Nagelschere, Objektwege fegen), 21.30 Uhr bis 22 Uhr Stuben- und Revierreinigen, Sportpäckchenbau, Waschen, Stubendurchgang, 22 Uhr Nachtruhe. Briefe kann ich nur in der Nachtruhe oder sonntags schreiben. Es gibt nur eine Zeit am Tag, zu der man sich etwas entspannen kann: die
Weitere Kostenlose Bücher