Sommer, Sonne und dein Lächeln: Sommerträume (German Edition)
1. KAPITEL
D er Raum war dunkel. Stockdunkel. Doch der Mann namens Sidney war an Dunkelheit gewöhnt. Manchmal zog er sie sogar vor. Es war nicht immer nötig, mit den Augen zu sehen. Seine Finger waren geschickt und erfahren, sein inneres Auge scharf durch jahrelange Übung.
Selbst wenn er nicht arbeitete, saß er manchmal in einem dunklen Raum und ließ lediglich Bilder in seinen Gedanken entstehen. Formen, Stoffe, Farben. Sie kamen manchmal sogar noch klarer, wenn man die Augen schloss und die Gedanken treiben ließ. Sidney umwarb Dunkelheit, Schatten, genau wie er rastlos das Licht umwarb. All das war Teil des Lebens, und Leben, die Abbildung des Lebens, war sein Beruf.
Er betrachtete das Leben mit anderen Augen als die meisten Menschen. Manchmal war es rauer, kälter, als es das nackte Auge sehen konnte – oder sehen wollte. Dann wiederum war es sanfter, lieblicher, als die viel beschäftigte Welt es wahrnahm. Sidney beobachtete, gruppierte die einzelnen Bestandteile, manipulierte Zeit und Form und hielt das alles auf seine Weise fest. Immer auf seine Weise.
Jetzt, in dem dunklen Raum und zu den ruhigen, körperlosen Klängen von Jazz, die aus einer Ecke kamen, arbeitete Sidney mit seinen Händen und seinen Gedanken. Sorgfalt und Zeitgefühl. Er setzte beides bei seiner Arbeit in jeder Hinsicht ein. Langsam und geschmeidig öffnete er die Patrone und schob den noch nicht entwickelten Film auf die Spule. Als der lichtdichte Deckel auf dem Entwicklungstank festgeschraubt war, stellte er mit der freien Hand den Zeitmesser ein und zog an der Kette für das Rotlicht in der Dunkelkammer.
Sidney genoss das Entwickeln der Negative und das Vergrößern der Bilder genauso – manchmal sogar noch mehr – wie das Fotografieren selbst. Dunkelkammerarbeit erforderte Präzision und Detailgenauigkeit. Er brauchte beides in seinemLeben. Das Vergrößern bot Möglichkeiten für Kreativität und Experimente. Auch das brauchte er. Was er sah und was er beim Sehen fühlte, konnte exakt umgesetzt werden oder für immer ein Rätsel bleiben. Darüber hinaus brauchte er die Befriedigung, selbst etwas zu kreieren, er ganz allein. Er arbeitete stets allein.
Während er jetzt präzise einen Schritt des Entwickelns nach dem anderen tat – Temperatur, Chemikalien, Bewegen, Zeitbemessung –, erzeugte die rote Lampe Helligkeit und Dunkelheit in seinem Gesicht. Hätte Sidney das Bild eines Fotografen bei der Arbeit entwerfen wollen, er hätte kein passenderes Objekt als sich selbst gefunden.
Seine Augen waren dunkel und konzentriert, als er das Unterbrecherbad in den Tank füllte. Auch sein Haar war dunkel und zu lang, gemessen an den Konventionen, um die er sich allerdings nicht kümmerte. Es reichte über seine Ohren und im Nacken über den Halsausschnittsaum seines T-Shirts und hing ihm fast bis zu den Augenbrauen in die Stirn. Er verschwendete kaum einen Gedanken an Stil. Sein Stil war kühl, fast kalt, und ziemlich rau und kantig.
Sein Gesicht war dunkel gebräunt, schmal und hart, von kräftigem Knochenbau. Sein Mund war angespannt, als er sich konzentrierte. Feine Linien breiteten sich von seinen Augenwinkeln aus, eingegraben von dem, was er gesehen und was er dabei gefühlt hatte. Man hätte sagen können, dass er bereits zu viel gesehen und zu viel gefühlt hatte.
Seine Nase war ein wenig schief, eine Folge des Berufsrisikos. Nicht jeder mochte es, wenn er fotografiert wurde. Der kambodschanische Soldat hatte Sidney die Nase gebrochen, aber Sidney hatte ein bezeichnendes Foto von der Zerstörung der Stadt, von der absoluten Vernichtung bekommen. Er hielt das auch jetzt noch für einen gleichwertigen Tausch.
Seine Bewegungen in dem roten Licht waren knapp. Er besaß einen schlanken, athletischen Körper, das Ergebnis von jahrelangen Einsätzen im Feld – oft einem fremden, unfreundlichenFeld – von unzähligen Meilen zu Fuß und von verpassten Mahlzeiten.
Selbst jetzt, nach seinem letzten Auftrag als Mitarbeiter von INTERNATIONAL VIEW, war Sidney noch schlank und agil. Seine Arbeit war nicht mehr so zehrend wie in seinen Anfangsjahren im Libanon, in Laos oder Mittelamerika, aber sein Verhalten hatte sich nicht verändert. Er arbeitete viele Stunden, wartete manchmal endlos auf den exakt richtigen Schuss, verbrauchte dann wiederum eine Rolle Film innerhalb von Minuten. Wenn sein Stil und seine Art aggressiv waren, so konnte man sagen, dass ihn das am Leben und bei gesundem Verstand erhalten hatte während all der Kriege,
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