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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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längst ausgestorbener Meganeura-Libellen oder karbonischer Hornissen. Die Gebäude waren grau: schlammgrau und bleistaubfarben, Karbidstaub, der sich in dicken Schichten auf Rohren, Wänden, Treppen abgesetzt hatte, selbst auf den Fenstern – einfache, ins Mauerwerk gebrochene Öffnungen mit Flatterlappen. Was Christian sah, war ein Korallenriff aus Dreck, und in jeder Sekunde, in der die rostbraunen Walzentrommeln mahlten, aus den SchornsteinenRauch unter die Wolken am Himmel kroch und ihn verdüsterte, rieselte, sank, knisterte Staub in frischen Schichten auf die von Feuchtigkeit und Wind hartgebackenen alten. Christian blickte zu einer Arbeiterin, die ein rotes »Simson«-Moped vor einem Ofenhaus abstellte und nach hinten, auf einen viereckigen Backsteinturm zu, verschwand – er sah das Spurprofil ihrer Schuhe im Staub, für einen Augenblick scharf in die nachgiebige Schicht geschnitten, bald aber überpudert von Sinkstaub, die scharfen Kanten wurden unscharf, allmählich füllte sich die Spur, begann unsichtbar zu werden. Auf Pfannkuchens Schultern lagen nach etwa zehnminütigem Warten Epauletten aus grauem Pulver, die Käppis schneiten ein, die Stiefel; Stabsfeldwebel Gottschlich wischte seine Armbanduhr sauber. Die ersten Wartenden begannen zu husten. Der Staub drang zwischen die Zähne, in die Augen, was sie entzündete, er scheuerte die Leisten wund. Und dann kam der Wind. Wind, der Stöberer, Unruhebringer, Blindmarschall des Wetters. Wie ein wachsender, dunkelgrauer Dschinn aus einer entsiegelten Flasche schwoll eine Staubspirale über der Karbidfabrik; am Erdboden, wo einzelne Grasbüschel wie Haarschöpfe von Begrabenen im Karbidpulver steckten, war die Spirale schlank wie eine Boa, gegen die Waggons auf der Materialtransportstrecke, hinter der Fabrik, aufschwellend wie eine Posaune, die sich bog und wand und über dem Lokomotiven-Rist der Ofenhäuser ihre Schalloch-Mündung entwickelte.
    Pfannkuchen nahm es achselzuckend. Er hatte gehört, daß die Arbeit in der Karbidfabrik gut bezahlt wurde, und als ein Brigadier kam, um sie zur Arbeit einzuweisen, begann er »Kopf zu heben« und zu feilschen. Gottschlich hatte anderswo zu tun und schien die Strafgefangenen jetzt sich selbst und den Karbidleuten zu überlassen. Christian sah die Gitter vor den Fenstern der Ofenhalle, in die sie der Brigadier führte. Hier, wenig übererdig, waren die Fenster aus Glas, hatten helle ausgewischte Schlieren, wie Butzenscheiben, in den Ecken waren Staubzipfel emporgewachsen.
    »Sie können mir doch was extra zahlen.« Pfannkuchen lächelte. Aha, der hatte seine Selbstsicherheit also nur versteckt. War ja schlau, der Bursche, wußte, wann es besser war, zu ducken und zu schweigen. Den Reumütigen zu mimen: denn den »gebrochenenCharakter« hatte ihm Christian nicht geglaubt. Abends erzählte er manchmal von Haftanstalten, die er durchlaufen hatte. Es gab Menschen, und so junge wie Pfannkuchen, die sahen das Land aus der »Siebluft«-Perspektive, »mit vergitterten Augen«. Waren durch die Knasts der Republik gewandert, kannten die Aufseher, ihre Vorlieben und Schwächen, wußten, ob und womit man sie schmieren konnte. Schwedt und die Karbidinsel hatte Pfannkuchen noch nicht gekannt – sie kannten ihn, wie Christian erfuhr. Mit Gottschlich hatte Pfannkuchen sich gleich verstanden, da witterte ein »Bruder« den anderen. Zufall, manchmal nur die Seite der Geburt, wohin es einen kleidete: dunkelblau oder gestreift. Die Ausdrucksweise unterschied sich nur darin, ob man per Gesetz prügelte oder nicht. Das hatte Christian zu lernen gehabt: Daß nicht lange geredet wurde. Schneller als ein Wort war ein Fausthieb, und wer recht hatte, wurde nicht in Diskussionen geklärt, jedenfalls nicht in mündlichen. Willst du’s schriftlich. Etwas schriftlich kriegen . Das bedeutete hier etwas anderes als draußen , auch das war zu lernen.
    »Mal sehen«, sagte der Brigadier. Pfannkuchen hob den Kopf, blickte sich rasch um.
    »Könnt mir’s doch aufheben. Ich hol’s mir, wenn ich wieder draußen bin. Soll auch Ihr Schade nicht sein.«
    »Erst mal kriegst du deine siebzehn Prozent.« 17 % des normalen Lohnes standen den Strafgefangenen zu, wenn sie die Norm erfüllten. Wenn der Brigadier so mit sich reden ließ, mußte es schlimm stehen um die Arbeitskräftesituation und damit um die Planbilanz. Christian kam ins Ofenhaus Gustav.
    Karbid. Er hatte von diesem Stoff schon gehört, den Film »Karbid und Sauerampfer« gesehen, er wußte,

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