Der Turm
übrigen Orient verband, durchschnitten war. Um vier Uhr stand er zur Frühschicht auf, um zwanzig Uhr ging er zu Bett. Die Wohnung war winzig, seine Frau und er hatten ein Kind; die Großeltern lebten in einem Zimmerchen. Vor dem Hochhaus kreiselten Tag und Nacht die Dumper, die Wege waren mit Brettern belegt. Die Kinder spielten auf den Schutthalden oder in den Müllcontainern neben der riesigen Zentralkaufhalle, die die Neustädter »Kofi« nannten. Weiß und fahnenüberweht steckte sie im Schlamm. Asza träumte davon, noch einmal zur See zu fahren wie in seiner Jugend. Alle Häfen, in denen er gewesen war, wollte er noch einmal abklappern, miteiner hochseetüchtigen Segeljacht und vier Mann Besatzung. Auch er wohnte in Halle-Neustadt, im Wohnkomplex 2, Block 380, Haus 5, Wohnung 17.
»Und wenn du mich mal besuchen kommst, Krischan«, sagte Asza, »und die Wohnung nich gleich findest, weil es is’ schon ’n bißchen schwierig, schwierig: Das ist die mit den roten Blumen am Balkon, die anderen haben bloß weiße.«
Wenn sie auf ihren Stühlen saßen, in den Pausen, und schweigend rauchten, schweigend mit nach vorn gebeugten Köpfen saßen: (weil es eine Verpuffung gegeben hatte: weil die Wasserkühlungen schadhaft waren, Wasser aus den brüchigen Gummischläuchen ausgetreten war und sich mit dem Karbid verbunden hatte zu Azetylen, das sich ausdehnte,
weil Azetylen entzündlich war und bei den im Ofen herrschenden Temperaturen explodierte,
weil sich das Karbid in der Luft, die Staubfeen, mit der Luftfeuchtigkeit ebenfalls zu Azetylen verband, so daß manchmal in den Ofenhallen Kugelblitze umherzusausen schienen,
weil geschmolzenes Karbid plötzlich aus dem Ofen schießen und Abstich- und Rutenmänner treffen konnte,
weil die Verunreinigungen aus dem Senkregime sich in der Ofenwanne absetzten und sich allmählich durch die feuerfeste Ofenmauerung fraßen, dann wie Lava aus dem Ofen geschleudert wurden, unter Stichflammen,
weil die Schwadenleitung für die Entstaubung nicht gebaut wurde,
das Prozeßabwasser von offenen Rohren als giftiger Schlick in die Saale erbrochen wurde,
weil das Karbid unverzichtbarer Grundstoff war für Plaste, Chemiefasern, Synthesekautschuk,
weil Samarkand die längst fälligen Investitionsmittel dringend anderswo brauchte und sich also nichts ändern würde,
weil das Gesumm der Ofen-Transformatoren, die zusammengeschalteten Einphasen-Trafos mit einer Leistung von 53 MVA, und der Drehstrom-Trafo, der zur Leistungserhöhung mit dem des Nachbar-Karbidofens parallelgeschaltet war, Kopfschmerzen bereiteten, pochende, unerträgliche Kopfschmerzen,
weil diese Transformatoren zu Kurzschlüssen neigten, so daß imFunkenregen Asza zu beten begann, der Herr möge sie alle gesund nach Hause lassen,
weil es einen Plan und damit die »Dunkelsteuerung« gab: In den Hauptlastzeiten, tagsüber, war oft wenig Energie vorhanden, die Öfen wurden zurückgefahren, dienten, ähnlich wie Pumpspeicherwerke, als Puffer für das öffentliche Netz – fuhren jedoch in den energiegünstigen Nacht- und Sonntagsstunden mit der vollen Last, um die Produktionsausfälle wieder aufzuholen,
weil es nicht nur das Karbid gab in Samarkand, sondern die Vinylchloridabteilung, die Elektrolyse, in der die Menschen giftige Gase einatmeten und mit 50 starben, das Kalkwerk, aus dem die Karbidfabrik den Branntkalk bezog, die Faserspinnung, die Kugelmühlen, die die braunen Karbidbrocken Tag und Nacht, eine Taktstraße mit raumschiffgroßen, auf Rollen rotierenden Kapseln, zu Staub zermahlten,
weil die Rente mit 60 wieder gestrichen worden war,
weil die Autos auf der vierspurigen Stadtautobahn fuhren und weiterfuhren und vorüberfuhren)
saßen sie und schwiegen, kamen Christian vor wie Verdammte.
Er beobachtete Pfannkuchen. Er hatte Burre so weit getrieben, er und noch andere.
»Warum hast du das gemacht? Mich unterstützt?«
»Weil’s nicht gerecht war, Muttersöhnchen.«
»Und Burre?«
»Der war schwach, nichts weiter.«
»Das findest du gerecht?«
»Die Schwachen müssen den Starken dienen, das ist nun mal so.«
»Nein, umgekehrt: Die Starken müssen die Schwachen unterstützen.«
»Nur dann, wenn’s an deinen Bezirk geht. Jeder hat seinen Bezirk. Und wer zu deinem Bezirk gehört, muß geschützt werden. Auch, wenn er schwach ist. So ist das seit alters.«
»Dann verstehe ich trotzdem noch nicht, warum du mich unterstützt hast.«
»Du hast eine Heimat, du hast jemanden, der dich besucht, du gehörst
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