Der Turm
amtlich zulässige Luftverschmutzung um 100 Prozent. Die Hitze machte Durst.
»Früher«, sagte King Siewert, »da gab’s für uns Vitamine, frisches Obst, Apfelsinen – aber jetzt? Rhabarbersaft! Immer bloß Rhabarbersaft! Jeden Tag nischt wie Rhabarbersaft!«
»Du bist doch in der Partei«, sagte Ruscha, »erzähl doch mal da oben, wie’s hier langgeht! Wo ist denn Affenvater?« Affenvater wurde der Abteilungs-Parteisekretär genannt. »Sitzt an seinem Schreibtisch, aber seinen Arsch bewegt er nich runter! Schöne Parolen kloppen … Sag doch mal was, King!«
»Tu ich doch! Aber die erklären einem nischt. Komm’ ich jenauso blöd raus, wie ich rin bin!«
»Die fahr’n die Öfen auf Krawall … Wenn da mal einer hochgeht, dann is’ hier aber Juri Gagarin in der Landekapsel, endlich ma’ wieder glühende Kommunisten!«
Gegen den Durst gab es Rhabarbersaft, gekeltert im VEB Lockwitzgrund. Der Saft wurde, auf einem Karren, von einer Frau gebracht, der »Rhabarbersaft-Liese«. Sie war undefinierbaren Alters, freilich schon Rentnerin; sie verkaufte den Saft in ganz Samarkand, um ihre Invalidenrente aufzubessern. Sie war dünn und ging gebeugt, wahrscheinlich einer fortgeschrittenen Osteoporose wegen, und Christian sah sie nie anders als im selben altmodischen schwarzen Kleid, zu dem der gelbe Schutzhelm mit dem Destillierkolben-Wappen von Samarkand in schrillem Kontrast stand. Es hieß, daß die Rhabarbersaft-Liese nicht ganz bei Trost sei, sie habe ihren Mann und ihren Jungen im Krieg verloren und sei vergewaltigt worden, nicht von den Russen, sondern von einer Einheit Kanadier. Sie hatte »im Chlor« gearbeitet, davon war ihr ein rostiger Husten geblieben, den man in den Pausen hörte, wenn die Öfen (entgegen der Vorschrift) stillstanden und der Lärmpegel auf ein erträgliches Maß sank. Mit wackelnder, klauenartig krummer Hand teilte sie die Rhabarbersaftflaschen aus und kassierte das Flaschengeld, das sie in eine lederne Schaffnerbörse sammelte und lange und nachdenklich betrachtete. Vor Pfannkuchen, der sich neben King Siewert ausruhte, blieb sie stehen und betastete sein Gesicht, was ihn verwirrte; er runzelte unwillig die Brauen.
»Sie steht auf dich«, flachste Ruscha.
»Ach, halt’s Maul«, Pfannkuchen stand auf, ließ die Rhababersaft-Liese stehen.
»Paß auf, sie hat den bösen Blick«, rief Asza. »War mal bei ’ner Wahrsagerin in Piräus, die hat jenauso jekuckt.«
»Und deshalb bist du noch da! Zweiundzwanzig Jahre!« Ruscha tippte sich an die Stirn. »Nur ’n Bekloppter bleibt so lange im Karbid.«
»Und du?« Pfannkuchen war zurückgekommen und musterte Ruscha verächtlich.
»Ich bin nich hier, um zu stucken, Kumpel, sondern um Geld zu machen. Ich reiß’ meine zwölf Stunden ab –«
»Und der Rest ist dir so was von Brust«, lachte King.
»Gebrannt wird überall«, entgegnete Ruscha achselzuckend.
Christian saß schweigend abseits, hörte den Geschichten zu, meist ging es ums Karbid und um »Weiber«, versuchteauszuruhen. Er spürte, daß er nicht ernstgenommen wurde. Pfannkuchen, den ehemaligen Schmied mit Bärenkräften, den nahmen sie ernst. Ihn nicht. Er war »einer von denen«, den »Weißkragen«, wie die Arbeiter die Betriebsleitung verächtlich nannten. Er arbeitete wie sie, es wurde ihm nichts geschenkt, sie halfen ihm nicht. Trotzdem war er keiner von ihnen, eine unüberwindliche Schranke blieb. Er beteiligte sich kaum an den Unterhaltungen, und vielleicht lag es an diesem Schweigen, daß die anderen zurückhaltend blieben. Eines Tages aber stand Ruscha auf, schlenderte auf Christian zu, der seinen Rhabarbersaft trank, und sagte: »Was ich mal fragen wollte, Sportsfreund – von der Firma bist du nich zufällig, he?«
»Setz dich hin, Ruscha«, sagte Pfannkuchen.
»Wär’ nich das erste Mal, daß die uns hier ’ne Laus in ’n Pelz setzen«, sagte Ruscha drohend.
»’s quatscht eben nich jeder so gern wie du«, sagte Asza. »Sei doch froh, daß wir das Jung jekriegt haben, oder willste wieder Freischichten fahr’n?«
»Wenn die Kohle stimmt …«
»Du kannst ’n Klassenstandpunkt haben …«
»Rhabarbersaft, Rhabarbersaft, ach hab’ ich die feinen Rhabarbersäftlein«, pries Liese ihre Ware an.
Als Christian sich eingewöhnt hatte, begann er Asza, Ruscha und die anderen Arbeiter zu beobachten, dachte auch viel über sie nach. Ron Siewert lebte in einer Plattenbauwohnung in Halle-Neustadt, das von einer vierspurigen Autobahn, die Samarkand mit dem
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