Der Turm
verdient. Die Schweinerei sind die siebzehn Prozent Lohn, nicht die hundert Prozent Karbidinsel. Immerhin, Christian war klüger geworden . Klüger sein hieß: die Klappe halten. Einige Zellengenossen waren immer noch nicht klüger geworden, sprachen von Irrtum und Unglück , wollten Anwaltssprecher und Berufungen und Haftbeschwerde und Besuch . Es gab aber keinen Besuch auf der Karbidinsel. Sie jammerten, anstatt zu schlafen. Sie waren angeknackst . Sie kamen ins U-Boot. Dort ging es korrekt zu.
Karbid. Wenn der Wind nach Süden drehte, blies er den Staub auf die Insel. An der Südmauer blühten Rosen. Christian hätte gern erfahren, welche Farbe sie hatten. Sie dufteten nicht. Die Blüten sahen aus wie aus Gips gemacht; selbst die Blätter undRosenranken waren hellgrau bestäubt, eine stuckartige, schlafschwere Schönheit.
Asza sagte: »Wer einen Sommer im Karbid durchhält, der bleibt.« Karbid. Was war das, wozu brauchte man das? Christian erfuhr: Koks braucht es und Branntkalk, das Gemisch wurde Möller genannt. Damit wurde ein Rundofen beschickt. Unter Ofen hatte sich Christian bisher Kohlen auf einem Rost vorgestellt, durch den die Asche in den daruntergeschobenen Aschkasten fiel, und er hatte gedacht, daß es hier, im Karbid, genauso funktioniere. Aber solch einen Ofen hatte er noch nie gesehen, geschweige denn: gehört. Drei mehrere Meter hohe Söderberg-Elektroden, zu einem gleichseitigen Dreieck angeordnet, ragten in das Ofengefäß, wurden unter Strom gesetzt, und da das Material, aus dem sie bestanden, dem Strom Widerstand leistete, wurden die Elektroden heiß, ein bis zu 3 000°C heißer Lichtbogen entstand. Darin reagierte der Möller zu Kalziumkarbid. Der Lichtbogen war grellweiß und brummte in der Ofenöffnung, die Asza das Nasenloch der Hölle nannte. Das Brummen wurde durchsetzt vom Stampfen der Koksbrecher, denn Kalkstein und Kohle mußten, bevor sie in den Mischturm kamen, um dort zu Möller vermengt zu werden, eine bestimmte Korngröße haben. Es klang, als ob eine Bisonherde durch die Halle gejagt würde, Klopfen und Knattern, manchmal ein ohrenstechendes Scheppern, als hätte man Waggons voller Bleche ausgeschüttet. Die Öfen soffen Strom – so viel, daß an manchen Tagen in Halle-Neustadt, wenn die Frühschicht aufstand, das Licht erlosch und Hochhausklötze wie verärgerte Bergtrolle in der Dämmerung standen. Der Ofen 8 war ein bösartiger Drachen. Asza kannte ihn gut und hatte Respekt vor ihm. Wenn Asza die Karbidkruste aufbrannte, klang es wie ein Schallplattenabtaster, den man quer über die Schallplatte riß, saftig und gefährlich, und keineswegs war es immer Karbid, was in den Fuchs schoß, es gab Verunreinigungen, Rückstände aus dem Branntkalk und dem Koks, die es nicht hätte geben dürfen. Die Schichtleiter wußten das und schwiegen; der Plan drückte, und zweiundzwanzig Abstiche pro Schicht waren die Norm, zweiundzwanzigmal mußte aus den Drachennüstern der weißglühende Schnupfen schnauben. Davor aber hatte der Gott des Hüttenwesens die Klumpen gesetzt. Die Schmelzmasse desMöllers neigte auch bei 2 200°C zum Verklumpen, und dann drohte der Stillstand der chemischen Reaktion. Den Stillstand zu verhindern war Christians Aufgabe. Mit meterlangen Eisenstangen, genannt Ruten, stocherte er in der Glut herum. Was wog eine solche Eisenstange? Genug, daß es nach einer halben Stunde zuviel war. Es gab ein Stahl-Thermometer neben der Treppe zum Ofenkopf, es war seit Zeiten von immer neuen Schichten Flugstaub bedeckt worden und glich nun eher einem Stalagmiten als einem Thermometer. Christian hatte, wenn er vor dem Ofen die Ruten bediente, das Gefühl, zu einem neuartigen Lebewesen, einem Zwitter aus Fischotter (Schweiß, die ofenabgewandte Seite) und Broiler (zur Ofenöffnung) geschmolzen zu werden. Die Hitze machte müde, trotzdem mußte man auf der Hut sein. Manchmal spritzte heißes Öl aus einer undicht gewordenen Leitung, traf die derbe Baumwollkleidung, von der Brennmaschine sprühten Funken, entzündeten den Stoff. Einmal stand Asza in Flammen, aber Ruscha, der zweite Abstichmann (sie arbeiteten zu viert pro Ofen und Schicht) warf ihm ruhig eine Decke über und erstickte den Brand. Pfannkuchen, mit Christian an den Ruten, war erschrocken zur Seite gesprungen. Der Staub kratzte in den Kehlen, bald kam der Husten, ein unabstellbares Würgen und Anbellen gegen die Karbidpartikel; drüben im Chlor, sagte Asza, war es noch schlimmer, drüben im Chlor überschritten sie die
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