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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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an einen Platz.«
    »Du nicht?«
    Etwas Seltsames geschah: Der Widerstand, den Christian lange in sich gespürt hatte – gegen die Gesellschaft, den Sozialismus, wie er ihn erlebte und sah –, schwand, wich einem Gefühl des Einverstandenseins mit allem. Es war richtig, daß er hier war. Er war ein Gegner der Armee und des Systems, und deshalb wurde er bestraft. Kein Land der Welt faßte seine Gegner mit Samthandschuhen an. Christian spürte: Hier, an diesem Ort, dem von Braunkohletagebauen und vergifteten Flüssen zerfressenen Chemie-Reich, war er richtig, hier war sein Platz. Er hatte seinen Platz in der Gesellschaft gefunden, hier wurde er gebraucht (er sah ja die Verzweiflung, die leisen Bitten hinter all den strengen Masken). Er tat, was man ihm sagte, und wenn man ihm nichts sagte, tat er nichts. Und wenn er nichts tat, freute er sich an kleinen Dingen: ein Löwenzahn in postalischem Gelb, die Klarheit eines Vogelzugs (im beginnenden Herbst zogen Graugänse über den Orient). Es war soviel einfacher, loszulassen und keinen Widerstand zu leisten. Wenn man genau das tat, was verlangt wurde, gingen die Strafen an einem vorüber, man hatte seine Ruhe. Warum kämpfen? Was nützte es, mit dem Kopf gegen Wände zu rennen, bis er blutig war? Ein weiser Mann, erinnerte er sich, geht mit gesenktem Kopf, fast unsichtbar, wie Staub.
    Abends sah er manchmal aus dem Zellenfenster. Dann hatte sich die Windspindel meist gelegt, man konnte, über der schwarzen Saale, neben der Kokstrocknung, die jetzt ihren Ruß abließ, so daß Hausfrauen in Kittelschürzen um ihre Wäsche rannten, den Wohnkomplex erkennen, in dem Asza, King Siewert, Ruscha und viele andere Karbidarbeiter lebten. Neubaublöcke faßten ein Karree, in der Mitte stand eine Windmühle, die Flügel drehten sich gegen den chemisch entzündeten Himmel von Samarkand.

62.
Nu sajaz – pogodi
    Wenn man wissen wollte, welche Neuigkeiten es im Viertel gab, ging man ins Haus Veronika in die Querleite, in dem einGemeindebad für diejenigen Haushalte betrieben wurde, die über kein eigenes oder, wie im Tausendaugenhaus, nur über ein von zu vielen Mietparteien genutztes Bad verfügten. Im beginnenden Winter 1986 erregten drei Ereignisse Aufsehen: die Rückkehr Muriel Hoffmanns aus dem Jugendwerkhof, die seltsame Operation des Ministers für Nationale Verteidigung und die Geschichte vom vertauschten Kind. Einmal wöchentlich ging Meno ins Badehaus, wie es Wasserkontingent und Nutzungsplan gestatteten, duschte, beobachtete, hörte zu. Herr Unthan, der Bademeister, war blind. Im Keller der Querleite 12, in dem das Gemeindebad untergebracht war, herrschte eine Atmosphäre aus Wrasen, Sprühgischt und von Schuckert-Birnen aus der Zeit des hohen Sanatoriumsbetriebs, deren Kontakte die Nässe immer noch aushielten, schummrig durchfunzeltem Halbdunkel, in dem sich Herr Unthan traumwandlerisch sicher bewegte. Von einem mit Holzrosten und benoppten Gummimatten belegten Gang zweigten am Eingang die Badekabinen ab, von denen zwei noch die ursprünglich installierten guten Zinkbadewannen der erzgebirgischen Firma Krauss mit dem Windfahnen-Ornament enthielten; zwei weitere Holzzuber, die beiden übrigen Kabinen Wannen aus Plastspritzguß, über denen, auf originalen Emailleschildern in schwarzen Frakturbuchstaben, zu lesen stand: »Der Name Krauss ist mir ein Schreck – ich bade nie, ich liebe Dreck« (diese bissige Reklame stammte von Ringelnatz alias Kutteldaddeldu), sowie, wahrscheinlich, um den Jungen des Viertels keine Ausflüchte zu bieten: »Dies ist ein Spruch für jedes Haus: Wer Wasser braucht, der braucht auch Krauss«. Die Badekabinen waren mit Vorhängeschlössern aus Messing gesichert, die wie grüngoldene Prachtkäfer im Zwielicht hingen; da aber die Türlatten von Nässe und Schwarzem Schimmel so mürbe geworden waren, daß sie mühelosen Durchgriff erlaubten, glichen diese Sicherungen dem Unterfangen, mit schweren Schlössern Juwelen in Pappkartons zu verschließen. Hinter den Badekabinen, tiefer im Keller, gab es Duschverschläge, deren braune Kunststoff-Klapptüren, die von Knie- bis Schulterhöhe eines durchschnittlich großen Erwachsenen reichten, beim Auf- und Zuschlagen wie Maultrommeln klangen. Herr Unthan hatte einen Großvater, der Geige gespielthatte, und weil Unthan sen. beide Arme fehlten, hatte er das in einem Zirkus getan, nur mit den Zehen; Herr Unthan jun. besaß eine Schellackplatte, »ä Dokument«, das er nie jemandem vorspielte, obwohl Ezzo, wenn

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