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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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um. Die Karavelle würde öd und finster liegen, vielleicht würde bei Griesels, im Wohnzimmer auf der Gartenseite, Licht brennen oder bei André Tischer; die Stenzel-Schwe-stern gingen früh schlafen. Anne und Richard waren verreist, Robert bei der Armee, Reglinde in den Tannhäuser-Lichtspielen, wo das Stück aufgeführt werden würde.

    Der Sommer 1988 begann mit roten Punkten. Herr Trüpel wischte sie kopfschüttelnd von den Schallplattenhüllen. In der Konditorei Binneberg krabbelten sie über Schwarzwälder Kirsch, Eierschecke, Marzipantörtchen und Windbeutel, verleideten den alten Damen den Kaffeeklatsch, verkrusteten die Sirupflaschen im ›Saftladen‹. Sie hockten auf den Ansichtskarten im Schaufenster des Malthakusschen Briefmarkenladens, lagen todmatt zwischen den Deckeln der Postwertzeichenhefter, krochen über die Vorkriegs-Pelikanstempelkissen und hielten Postmeister Gutzschs Bernhardiner in juckender Gymnastik. Zu den offenen Fenstern der Tanzschule Roeckler brummten sie herein, fanden Bruno Korras »Papierboot« und Priebschs Ersatzteillager, versteckten sich unter Lamprechts Herrenhüten, sprenkelten die Stoffe in der Schneiderei Lukas, wurden von den Schreibmaschinenlettern der Handelskorrespondentinnen erschlagen, ruinierten Lajos Wieners Perücken (noch nie hatte Meno den Ungarn tobsüchtig gesehen: Wiener hielt die hellen und dunklen Toupets mit beiden Händen gepackt und schmetterte sie puterroten Gesichts unter verrutschtem Haarnetz wieder und wieder auf einen Feuerwehrhydranten). Dekorativ ließen sie Ehrwürden Magenstocks Soutane an Scharlach erkranken. Gaben Kantor Kannegießers Orgelpfeifen belegte Hälse. Die Rosenschlucht unterhalb von Haus Arbogast vibrierte von trockenem Rascheln und Knistern wie von kurzwellig unterbrochener Haarelektrizität, wurde zum infizierten Blutgefäßsystem; dicke Trauben Rot klebten an Rosenköpfen und -stielen; Frau von Stern sagte, noch nie, nicht einmal im Sommer Siebzehn beim Zaren, habe sie so viele Marienkäfer gesehen. »Wo Marienkäfer sind, sind auch Blattläuse«, sagten die ausschwärmenden Kammerjäger und wurden der Plage nicht Herr.
    Christians Einheit kam in die Volkswirtschaft, zum Arbeitseinsatz. Wieder ging es nach Samarkand, doch diesmal in die Braunkohletagebaue, und er fuhr nicht als Strafgefangener. Die Kompanie bekam eine Baracke inmitten des baumlosen, vonBaggern und LKWs zerwühlten Mondlands zugewiesen. Die Betten waren frisch mit zitronengelber Bettwäsche bezogen. Christian arbeitete als Gehilfe auf einem Abraumbagger. Ein Schicht-LKW holte die Soldaten von der Baracke und, wenn die Schicht um war, von den Baggern und Abraum-Verladern ab. Christian war zur Nachtschicht eingeteilt worden, da fehlten die meisten Arbeitskräfte.
    Es wurde Spätsommer, die Marienkäfer verschwanden so plötzlich, wie sie gekommen waren. Die Stadtreinigung fegte die Überreste der Siebengepunkteten zusammen, ganze Kehrrichttonnen voller roter Flügel und schwarzer Leiber. Die Kalvillen und Äpfel reiften, die Gute Luise versprach reiche Ernte, obwohl in diesem Jahr auch der Birnenrost die Gärten des Elbhangs von Loschwitz bis Pillnitz heimgesucht hatte. Herr Krausewitz stand betrübt, die Hand am Kinn, im Garten von Haus Wolfsstein, uneins mit Libussa, was man gegen die Plage tun könne: Wasser, mit zerriebenen Walnußblättern versetzt und um den Stamm des befallenen Baums gegossen, half nicht, keins der Schädlingsbekämpfungsmittel aus der Drogerie. Wofatox-Wolken nebelten die Pflanzen ein, legten sich als grauer Staub auf die Blätter.
    Der Zettel in Menos Schreibmaschine war gefälscht worden.
    Im September wurde Ulrich fünfzig Jahre alt, im Oktober Niklas. Man feierte zu Hause, im engen Kreis.
    Und an einem der sonnigen, fast windstillen Spätherbsttage, die mit ruhiger Wärme gefüllt waren wie Anker-Gläser mit Most, nahm Richard das postgelbe Ölkännchen vom schwarzen Bord, ging zum Hispano-Suiza, gab hier einen Tropfen zu, schmierte da ein laufendes Teil, während Stahl, die Hände in den Taschen seiner Arbeitshose, reglos in den Himmel sah, der sich wie ein hellblauer Seidenschirm über dem Steinbruch von Lohmen spannte: »Fertig. Tatsächlich: fertig, Gerhart. Bin gespannt, wie er läuft.«
    Die Zeitschrift »Sputnik«, Digest der Sowjetpresse, wurde verboten.
    Und an einem anderen Spätherbsttag, der ein sonniger, fast windstiller Spätherbsttag noch werden würde, klopfte es morgens um halb vier heftig an die Tür des

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