Der Turm
zurückkehrte, die man mit Versprechungen, Drohungen, Ablenkung und Süßigkeit über die Jahre gezähmt zu haben glaubte.
In den Plattenbauten staute sich die Kälte, in den Küchen mit den Dunstabzugshauben und Schiebetüren, an denen Schnatterinchen und das Messemännchen baumelten, Küchen, in denen die Mütter alterten an den winzigen Herden für Babymilch und Abendessen, das sich nach dem Angebot in der Wohngebiets-Kaufhalle richtete: Meterregale für Mehl und Malfabrot, für Kohlköpfe, Konserven und für »nischt«, an der Fleischtheke leer blinkende Haken und Tagesware unter Plexiglashauben – Blutwurst, Sülze, Kutteln, Speck, dazwischen ein kleiner Ernst Thälmann aus Aluminium –; kalte, partikelgesättigte Luft hing in der Durchreiche zwischen Küche und Wohnzimmer, wo Sandmännchen den Abendgruß brachte zu Jungpionieren vor der Standardschrankwand mit Matrjoschkapuppen, Bergarbeiterwimpeln; Kälte in den Fluren mit den Wohngebiets-Wandzeitungen und Hausordnungen, den Bekanntmachungen der Hausgemeinschaftsleitung (»Ha-Ge-Ell, Ha-Ge-Ell«, echoten Stimmen über den Fluß, Schiff Tannhäuser an Atlantis’ Grenze): Der Hausvertrauensmann ruft auf zum Subbotnik! Bürger, schützt eure Grünanlagen! Bürger, nicht alles gehört in den Müllschlucker! Aufruf zur Volkswirtschaftlichen Masseninitiative (»Vau-Emm-Ih, Vau-Emm-Ih«, sang der Minol-Pirol) – Befestigung der Wege im Wohngebiet! Kälte ließ die Pfützen vor den Plattenbauten erstarren, die schlammigen Wege gefrieren, Wind, der dunkle Brigadier, saugte Wärme aus den Zentralheizungen, zerrißdie Transparente vor dem Haus der Kultur, wühlte in den Müllcontainern, wo die Kinder nach der Schule Indianer spielten
– Blasse Kinder. Zerschrammte Knie, »Loch im Kopp«, Platzwunden, die ohne Betäubung im Wohngebiets-Ambulatorium genäht wurden; Schürfwunden, bissig unter eiskalter Sepso-Tinktur, beim »Pöbbeln«, im Hinterhof zwischen Wäschestangen, abgeholzte Haut; sommersprossige, segelohrige Jungs in müttergeschneiderten Fußballtrikots mit den berühmten Ziffern darauf, den legendären Namen: Walter, Rahn, Ducke, Puskas, Hidegkudi (schwer zu buchstabieren! schwer, jemanden zu finden, der es genau wußte!), Pelé. Mädchen sprangen Gummitwist, Mädchen lasen Bücher … Mädchen spielten Schach (»Mit dieser Buchauszeichnung würdigen wir Deine erfolgreiche Teilnahme an der Stadtspartakiade 19.. auf dem Gebiet des Schachspiels. Wir wünschen weiterhin viel Freude und Erfolg beim Ausüben dieses Denksports! Deine Patenbrigade«). Keine hundert Meter ohne Namen. Freiheit für Luis Corvalan. Bohrsches, Rutherfordsches Atommodell; der Genosse Staatsratsvorsitzende blickt, mit leicht schräggeneigtem Kopf, von einem hellblau grundierten Foto versonnen freundlich auf (»nischt«! »nischt«!) »unsere Jugend«. Bau auf, bau auf: in den Physik- und Chemie-Kabinetten, den Arbeitsgemeinschaften »Junge Techniker«, »Elektronik«, »Junge Kosmonauten« –
Am 3. Oktober drängte sich eine Menschenmenge vor dem Hauptbahnhof, vor der Kasko-Reklame und dem stet leuchtenden Schriftzug »Radeberger«, mehrere hundert Männer (die Frauen hinter ihnen, vorsichtiger, abwartend) im trübkalten Abend, der zu einer neuen Zählung gehörte seit dem Verbot des Neuen Forums, seit den Ereignissen auf dem Prager Burgberg, etwas war geschehen, mit den herkömmlichen Einfriedungen nicht mehr zu bestimmen, etwas geschah irgendwo in der Dunkelheit, die durchstanzt war von den rechteckigen Gelbs der Hochhausfenster an der Leningrader Straße, den einander tunnelnden Scheinwerfern der Straßenbahnen und Überlandbusse. Die Männer waren jung, fast alle um die Zwanzig, Dreißig, ihre Körper steckten in den schiefen Jacken, Militärkutten mit gefärbtem Kunstpelz, den ausgeleierten Jeans und karierten Baumwollhemden der hiesigen Bekleidungsindustrie; einige ältereMänner waren, unsinnigerweise, fand Meno, sonntäglich gekleidet, als ginge es zu einem Ausflug mit Einkehr. Auf den Gesichtern lag der abwehrende und erschrockene Ausdruck, den Gerettete, die sich auf einem vorläufig sicheren Platz versammeln, im Anblick einer Naturkatastrophe haben. Je größer die wartende Menschenmenge wurde, desto mehr Polizisten stellten sich ihr gegenüber auf, versperrten die Eingänge. Sie schienen aus dem ganzen Land zu kommen, Meno sah Rostocker und Schweriner Kennzeichen an den Einsatzfahrzeugen.
»Wir haben doch Fahrscheine, wir können ordnungsgemäß durchgehen«, meinte
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