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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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einzelne Schreie schlitzten den Menschenkokon aus Uniformen und Zivil, der vor den Ausgängen schwoll und nachließ und wieder schwoll. Der Zug nach Berlin fuhr in provozierender Bedächtigkeit ein. Die Rufe schwappten jetzt auf diesen Bahnsteig, Redlich und Madame Eglantine hopsten vor den rennenden Menschen in den Waggon, Meno wurde von dem panischen Knäuel, das die Polizisten vor sich herschoben, weggedrängt. Und wieder fallendes Papier, graupelnde Fetzen, einige senkten sich zeitlupenhaft auf eine Bank, Meno entzifferte »H. Kästners diskreten Gummischutz-Versand«, Tauschgesuche, Außenbordmotoren, Abführmittel. Redlichs betroffenes Seehundsgesicht ging im Abteilfenster unter, davor Madame Eglantines Hand weit auf den Bahnsteig nach Meno gereckt, wirklich nach mir, dachte er im Gepuffe, Gerangel, ihr Mund zu einer seltsamen Grimasse aus Schreienwollen und Kehlenstreik zerrissen, die Lautsprecher wirkten blind im schneienden Papier, das, immer wieder von wütenden Stiefeln, zickzackflüchtenden Schuhen hochgetreten, als Konfettirevue über dem Aschebraun des Schotters, der Bahnschwellen auftanzte. Meno gelang es nicht, den Zug zu erreichen. Pfiffe, die Kelle, krustiges Türen-Zu. Jemand stieß seinen Koffer um, ein anderer stolperte darüber, prallte auf Meno, der versucht hatte, den Koffer aus dem Getrampel zu retten. »Können Sie nicht aufpassen? Verdammter Idiot!« schrie der Kerl und holte zu einer Ohrfeige aus. Meno duckte sich, der Schlag traf einen Polizisten hinter ihm, der sich wie ein dicker verwöhnter Junge, der seine Mama plötzlich auch anders kennenlernt, weinerlich-verdattert die Wange hielt und kläglich »Auaa!« sagte; Meno grinste. ZweiPolizisten rupften ihn von seinem Platz, er bekam Fausthiebe, in die Magengrube (was er, da er in der Manteltasche ein Reiseschachspiel hatte, als nicht sonderlich schmerzhaft empfand), dann in die Lebergegend (dabei zerbrach mit bedauerndem Knacken seine Kugelkopfpfeife), mehrere gar nicht schnelle, aber forschende Schläge, die ihm die Luft kappten, dann wurde er, zusammen mit dem Mann der unglücklichen Ohrfeige, der an beiden Augenbrauen blutete, abgeführt. Scheiben klirrten, Geheul, Tauben, die mit ihren Flügeln die Luft schredderten. Menos Koffer blieb stehen. Auf dem gegenüberliegenden Gleis rollte ein Zug ein, offensichtlich der erwartete aus den Leipziger Depots, der die Botschaftsbesetzer abholen sollte; in schriller Panik, durchkreischt von Lautsprecherwarnungen und Polizeimegaphonen, die aufforderten, den Bahnhof zu räumen, wurde er gestürmt. In der Vorhalle kickten Jungs Papierbälle gegen den verbarrikadierten Intershop.
    »Hauen Sie ab, Mensch«, sagte der Polizist draußen zu Meno. »Aber mein Koffer –«
    »Verschwinden Sie!«

    (Eschschloraque) »Aber die Menschen, wenn sie frei sind, was machen sie mit ihrem Leben? Wenn es ihr Streben ist, glücklich zu sein, was ist dann der Ausdruck ihres Glücks? Sie gehen jagen! Die Aristokratie, die die meiste Muße hatte, sah ihren liebsten Zeitvertreib darin, jagen zu gehen. Und die kleinen Leute betreiben die Jagd der kleinen Leute: Sie gehen fischen. Was erreichen Sie mit einer Revolution? Eine Vermehrung der Zahl der Angler. Das ist alles. Das verbesserte Los des Arbeiters besteht darin, daß er sich dieser einfachsten Form der Jagd widmen kann. Und dafür Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Ach Gottchen.«
    (Altberg) »Jetzt sind Sie der Zyniker.«
    (Eschschloraque) »Ich versuche nur, mich vor dem Idealisieren zu hüten. Machen Sie die Menschen nicht interessanter, als sie sind … Es geht nun einmal oft gar zu billig zu im Leben, und oft kopiert es die Kunst auch, und was dann?«
    (Schubert) »Aber es muß doch eine Hoffnung geben! Man kann nicht leben ohne Hoffnung!«
    (Eschschloraque) »Ich fürchte, das werden wir lernen müssen.– An Meistersingers Küste stehen, Ort der uraltneuen Weise, jeder bleibt an seinem Platz in festgefügter Ordnung, die Zeit, die Zauberin, die ewig alles wandelt, ohne Macht!«
    (Conférencier) »Da ist er, Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft, hören Sie, meine Damen und Herren, den Mephisto-Walzer, intoniert von unserer zauberhaften Big Band aus Dresden!«
    (Albin Eschschloraque) »Gar nichts mehr tun. Ich will einfach … dasitzen und brüten. Ich wollt’, ich wär’ ein Huhn.«
    (Schevola) »Sie hegen für sich den ganzen Abscheu, den man für ein einstiges Idol empfindet.«
    (Albin Eschschloraque) »Sollte ich

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