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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Schevola nun Schriften dissidentischen Inhalts ab. Richard beobachtete Anne und sah mit Verwunderung, wie die Wohnung in kurzer Zeit zu einer Art konspirativer Zelle wurde. Schuhkartons mit kopierten Schriften stapelten sich in den Zimmern (und wurden von schweigsamen Burschen nach Losungswort abgeholt, einmal von André Tischer mit einem Krankenwagen); merkwürdige Bücher und merkwürdige Menschen erschienen, letztere wurden bewirtet, warfen rasch die Arme in die Höhe, um von irgendwelchen Gesellschaftsmodellen mit Emphase zu schwadronieren (die belegten Brote waren danach verschwunden) oder hörten anderen beim Schwadronieren zu, erhoben kluge oder weniger kluge Einwände, bewunderten die Standuhr und die Reste bürgerlichen Wohlstands, die ein zur Erheiterung auf dem Klavier hingelegter Flohwalzer, empfand Richard, mit etwas beklemmend Fremdem überzog, das Einsamkeit und Stille danach, wenn alle gegangen waren, nur langsam durchwärmten. Es gab Einbrüche, nach denen die Schuhkartons mit den kopierten Schriften fehlten und – ein sonderbares, primitives Alibi – ganze Reihen eingeweckten Obstes. Eines Tages fehlte auch Roberts Fußballbildersammlung (Fotos, die zwischen Silberpapier und Hülle einer westdeutschen Schokoladenmarke klemmten, die von Alice und Sandor jahrelang den Weihnachtspaketen beigelegt worden war), und Richard, der in ohnmächtiger Verzweiflung zur Polizei, zur Kohleninsel, schließlich zur Grauleite lief, um sich zu beschweren, wurde zum ersten Mal seit undenklicher Zeit krank (Clarens nannte es endogene Depression, er schwieg), verbrachte, während draußen Mandelbäume blühten und von den Elbwiesen der nussige Duft des Sommerheus durch die Fugen der abschließbaren Fenster drang, zwei Wochen tiefer Melancholie in Clarens’ Klinik, über deren Flure Frau Teerwagen erloschenen Blicks tappte, wo Richard Alexandra Barsano wiedersah mit kurzgeschorenemHaar, widerstandslos gegenüber den Anweisungen der Schwestern, die sie zu ihren alltäglichen Verrichtungen begleiteten; wo nachts aus dem Selbstmördersaal verrücktes Schreien den warmen Schlaf der übrigen Patienten zerhäckselte – bis der Diensthabende erschien, gefolgt von einer Walküre mit einem Tablett voller Spritzen, von dem er sich, wie Richard von Visiten wußte, bediente wie andere der Ersatzteile von einem Fließband; und die Stille »wiederherstellte« – zurückimpfte Kehle um Kehle. Besuch bekam Richard nicht. Die Kollegen schwiegen, niemand wollte etwas wissen nach seiner Entlassung, selbst die immer neugierigen Schwestern nicht. Und Anne? Sie hatte keine Zeit. Sagte: »Du bist wieder da; gut.« Sie telefonierte wenig (man hätte doch nur Belanglosigkeiten tauschen können), organisierte viel, ging oft weg. Richard fragte nicht, worauf das hinauslaufen sollte. Vielleicht hätte Anne ihm nicht geantwortet – so konnte er noch hoffen, daß er von ihr eine Antwort bekommen würde. An den Wochenenden, wenn er dienstfrei war, aß er in der »Felsenburg« bei Kellner Adeling, wo im Vestibül der Regulator tackte und die Farbkorallen auf der Kokoschka-Staffelei staubfrei glänzten. Anne schmierte sich eine Semmel und ging an das, was sie »ihre Arbeit« nannte: Treffen irgendwo in der Stadt, Unterredungen mit Vertretern Ostroms und des Schmücke-Kreises. Auch sie hatte einen Koffer gepackt; er stand neben Richards Tasche im Flur-Kleiderschrank. Je mehr die Fluchtbewegung über Ungarn zunahm, desto angespannter saß Anne auf der Veranda, wo sie sich in violettstichige, auf schlechtem Papier abgezogene Schriften vertiefte. Sie hatte für den Schmücke-Kreis den Kontakt zu Pfarrer Magenstock vermittelt, der mit Rosenträger befreundet war; Rosenträger konnte den akut Gefährdeten Unterschlupf bieten. Sie sprach mit Reglinde: Sie würde, wenn sie bei ihnen wohnen bliebe, in Schwierigkeiten geraten – Reglinde begann als eine Art Kurierin zu arbeiten, der Zoo war ein guter, neutraler Treffpunkt (das Gorillagehege würde wohl kein Fremder zu durchsuchen wagen); unter den traumwandlerischen Umgriffen der Gibbons wurden Kassiber hin- und hergespielt. Was Anne tat, was Magenstock, die Mitglieder des Schmücke-Kreises taten, war strafbar, der Paragraph trug die Nummer 217. Aber sie, die Richard bisher gebremst hatte, wenn es um »Politisches« ging,zögerte jetzt nicht mehr. Sie schien genau zu wissen, was sie wollte. Er wußte es nicht.

72.
Der Magnet
    … herauf aus tiefem Schlaf der Zeit,
    schrieb Meno,
    Papier: geriet in

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