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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Fräulein Sezierde zu Ihnen sagen?«
    (Eschschloraque) »Du kannst nicht ruhig bleiben, Sohn, wenn sich um die stille Achse deines Zimmers die Welt dreht.«
    (Sinner-Priest) »Sie können sich denken, was ich empfand, als mein Chef verfahren wollte nach dem Grundsatz dieses mir verhaßten Volks! Das wirklich in abergläubischem Wahnsinn den Statuen die Nasen abschlägt, damit sie nicht lebendig werden!« (Barsano) »Wir haben geglaubt, daß alle Menschen im Grunde gut sind. Wenn wir ihnen genügend zu essen geben, Wohnung, Kleidung, dann müßten sie nicht mehr böse sein, es wäre nicht mehr nötig. Ein Irrtum, werch ein Illtum.«

    Aber Meno wollte nicht. Der Koffer im Bahnhof enthielt Manuskripte, darunter eines von Judith Schevola, mit Korrekturen; unersetzlich. Pflichtgefühl, Angst, Neugier und Abenteuerlust: Er umrundete den Bahnhof und betrat ihn durch einen Seiteneingang erneut. Da er eine gültige Fahrkarte vorweisen konnte, durfte er passieren. Menos Koffer fand sich unter einer Bank, bewacht von einer alten Frau, die in der Nähe des Bahnhofs wohnte und gekommen war, um Tee und Kekse zu spendieren. Sie hatte gesehen, wie Meno und der andere Mann abgeführt worden waren.
    »Haben Sie so was schon mal erlebt?«
    »Nein«, sagte Meno.
    »Das gab’s nur im Krieg und am siebzehnten Juni«, sagte die alte Frau. »Sie sind jung – an Ihrer Stelle würde ich auch gehen.«
    Meno fuhr nach Hause. Die Straßenbahn war voller Gerüchte, die Menschen schwiegen nicht mehr, es schien sie nicht mehr zu kümmern, ob jemand mithörte. Dresden lag in der kaltschattigen, trauerschweren Ödnis seiner Herbsttage; über den stillen, von schwankenden Zweigen durchflüsterten Straßen des Viertels schaukelten die Laternen.
    Windwirbel drehten die Baumkronen der Mondleite, federten vom Dach des Tausendaugenhauses, das ächzte und knarrte. Pedro Honich hatte schon die Fahne in die Halterung vor seinem Fenster gesteckt. Bei Libussa lief der Fernseher. Vanilleknasterarom tastete sich durch die Türritzen, obwohl Meno von Anne und Barbara hergestellte Stoffschlangen vorgelegt hatte. Im Wintergarten ging jemand unruhig auf und ab. Meno öffnete die Spitzbogentür und trat auf den Balkon, gefolgt von Chakamankabudibaba, der in die neblige Luft witterte. Aus dem Park wehte der Geruch nach Moderholz, mischte sich mit dem nach Humus und nassem Laub aus dem Garten. Meno starrte auf die Stadt, den sichtbaren Elbbogen, auf dem ein schwach lichternder Schleppkahn trieb, auch dies war also Zeit, jemand mußte auf Strömungen und Markierungen achten, Menschen brauchten Kohle und Kies, oder was sonst das Schiff dort transportierte. Er ging ins Zimmer zurück. Wie friedlich der Schreibtisch: Mikroskop und Schreibmaschine, ein leeres Blatt noch eingespannt. Er setzte sich hin, versuchte zu arbeiten, aber seine Gedanken rutschten immer wieder ab. Er stand auf, er mußte mit jemandem reden.
    Libussa und der Schiffsarzt, der Meno heftig durch den Kugelvorhang winkte, hatten inzwischen das Radio eingeschaltet. »Solltest du nicht in Berlin sein?« fragte Lange überrascht.
    »Bin nicht durchgekommen, der Hauptbahnhof ist gesperrt worden.«
    Libussa stellte einen tschechischen Sender ein, übersetzte. Kaum Neues, verklausulierte Wendungen. Die vertraute, sonore Sprecherstimme des Senders Dresden erwähnte die Ereignisse mit keinem Wort. Libussa stellte ab und schwieg. Auch Meno konnte plötzlich nichts mehr sagen, hockte verkrampft unter der Knotensammlung. Er wollte Niklas sehen.
    »Bring dich nicht in Gefahr, Junge!« rief der Schiffsarzt ihm nach.
    Die Villen der Heinrichstraße schienen in einen efeuumschlungenen Traum zurückgezogen, die wenigen erhellten Fenster blickten nicht auf die Straße, sondern ins Land Gestern; die Rhododendren und Brombeerranken an den Zäunen zwischen den vom Eisenkrebs zerfressenen Gartentoren schienen aus wucherndem Scherenschnittpapier zu bestehen. Bei Griesels brannte Licht; die erste Etage, André Tischers und die Wohnung der Stenzel-Schwestern lag dunkel. Richard hatte Dienst, Anne mochte unterwegs sein, bei einem Oppositionellentreff in der Neustadt oder drüben in Loschwitz, in der Kügelgenstraße … Oder bei Matz Griebel und seinen mehr oder weniger anarchistischen Künstlerfreunden.
    Ezzo öffnete; die Violine unters Kinn geklemmt, schraubte er am Bogen, probierte einige Striche, während Meno den Mantel an den Kleiderrechen gegenüber von Reglindes ehemaliger Kammer hängte. Ezzo ließ ihn allein.

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