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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Josef Redlich. Er wurde angehalten, ein Polizist befahl ihm barsch, sich auszuweisen und sein Gepäck zu öffnen. Verwirrt hob er das Köfferchen mit den Unterlagen für die Herbstsitzungen im Hermes-Verlag, eine rasche, bestürzte Geste, der Polizist sprang zurück und schwang einen Schlagstock. Meno und Madame Eglantine, die an einer Bockwurst kaute, gingen dazwischen, wurden von mehreren Uniformierten gepackt und ins Innere des Bahnhofs geschoben, wo es ihnen gelang, sich auszuweisen. Hier warteten noch mehr Menschen. Die meisten, erfuhr Meno, waren aus Bad Schandau gekommen, wo sie einen der Ausreisezüge zu erreichen oder nach Prag zu gelangen gehofft hatten, aber von Polizei und Blousonträgern zurückgetrieben worden waren. Seit Mittag war der paß- und visafreie Verkehr zur ČSSR ausgesetzt. Nach Polen war er noch nicht wieder eingeführt worden; nun, hatte es mit bitterem Witz in der Stadt geheißen, könne man nur noch mit den Füßen voran verreisen.
    Die Polizisten trugen Schutzhelme mit Visieren; sie bewegten sich unsicher und wachsam, wie Piloten, die gut geflogen, aber am falschen Ort gelandet und dadurch nur noch halbe Helden waren. Vor dem Bahnhofsblumenladen kampierten Punks. Ein Häuflein Nonnen folgte einem gelben, ausgespannten, über den Köpfen der Wartenden schaukelnden Regenschirm mit der Aufschrift »Jesus lebt«. Vor den Telefonzellen am Ausgang zu den Haltestellen der 11 und der 5, sonst immer, wenn Meno nach Berlin gefahren war, eine Zone ungeduldiger, summend die Zellentüren belagernder Menschenballungen, schien ein Bannkreis um einen großen, breitgespritzten Kotzefleck gezogen, einbeigefarben auf dem Boden explodierter Kassensturz granatig ausfransender, noch brodelnder Energie, ein Farbkübelplatsch konkret-wilden Expressionismus’. Josef Redlich zog den Hut. In der Mitropa Gedränge, Tabakrauchluft, hefige Blicke über den rotweiß karierten Wachstuchdeckchen voller Soßenflecken, Plastassietten, Gaststättentassen mit grünem Rand. Draußen Menschenklumpen, die drei hatten Mühe, zu ihrem Gleis durchzudringen. Übervolle, umgestoßene Papierkörbe. Tauben, flatternd, aufgeregt, das Walfischgerippe der Halle überwölbte ein täglich frisch geweißtes Kalkriff. Josef Redlich achtete auf die Züge, erklärte Details. E-Loks, Dieselloks, auf den Außengleisen Fossile aus Pionierzeiten, die Dampf aus den Nüstern stießen wie zornige Büffel. Der kleine Mann schien verunsichert, ruckelte am Koffer, kniff an seinem Hut herum. »Was halten Sie davon, Herr Rohde?« Er blickte auf den glatten, kittgrauen Boden voller Bierflaschen und zusammengeknüllter Zeitungen.
    »Ich weiß nicht«, sagte Meno ausweichend. Man mußte vorsichtig sein, dabei blieb es. Er hatte Redlich immer gemocht, diese »ehrliche Haut«, wie es im Hermes-Verlag über ihn hieß, die »tat, was sie konnte«.
    »Und Sie?« fragte Madame Eglantine, mit der Schuhspitze Zigarettenkippen über den Rand des Gleises wischend.
    »Ich weiß auch nicht.« Josef Redlich zog fröstelnd die Schultern hoch.
    »Es muß sich etwas ändern, das wissen Sie doch auch«, versuchte Madame Eglantine.
    »Aber wohin, Frau Wrobel, wohin, das ist die Frage«, erwiderte Josef Redlich leise. »Sie waren in der Kreuzkirche, Sie beide und Herr Klemm. Der Chef hat das auf die Tagesordnung gesetzt. Als ob es noch die Zeit wäre für solche Kindergartenerziehungen. – Spielen Sie Skat?«
    Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig wolkte Papier, eine Kehrmaschine rasselte durch wie ein verfolgter Käfer. Sofort änderten sich die Gewichte in den vagen Balancen der Wartemenge, Getrappel, aufgeregte Schreie, Babywimmern, ein Zug war noch nicht zu sehen, mußte aber kommen, da die Menge ihn so sehr beschwor, Wünsche werden Wirklichkeit, las Meno auf einer aus einer Westzeitschrift gezerrten Reklame. Aber eskam nur eine orangefarbene Rangierlok, deren Führer eine hackende Kopfbewegung machte, als die Enttäuschung der Menge in Gepfeif umschlug. Die Polizei war sofort da. Kugeln aus drei, vier Uniformierten rollten vor, griffen zu, schleiften zurück, der Hauptpulk schluckte die Verhafteten, von denen hier und dort noch ein wirbelnder Kopf, protestierende und strampelnde Arme, zu sehen waren, bevor sie in Schlagstockhieben untergingen. Plötzlich spürbarer Luftwiderstand, Wirbel, die vor- und zurückprallten, die Stromleitungen über den Bahnsteigen sirrten hart wie Eierschneiderdrähte; aus den zu akustischem Brei verrührten Stimmen waberten Proteste auf,

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