Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
von Vätern, die dabei waren, den Söhnen an Mannwerdungs-Sonntagen vorgeblättert (oder würde es auch hierzulande irgendwann Videos geben?); Meno sah zu, wie der Stein sich über der Phalanx aus durchsichtigen, das klinische Neonlicht wasseroberflächenhaft reflektierenden Schilden senkte, wie er auszutrudeln und die Kurve wie auf Fluglotsenkarten ins Gestrichelte überzugehen schien, bevor er treffen und in einer seltsamen Rückspiegelung die Linie seines Flugs noch einmal aufblitzen lassen würde, elektrizitätsrasch noch einmal der Kimme und Korn bestätigende Schlagbolzenklack:
    und
    Schreie, Schlagstockrauschen, helle Gier. Kesselten, huschten, bohrten. Von Schandau waren Tausende zu Fuß zurückgekommen, teils von Polizei und anderer Staatsgewalt getrieben, teils resignierend nach tagelangem Kampieren entlang der Gleise
    und
    Randalierer, die Alltagsschlacke auf den Gesichtern aufgebrochen für den weißen Unterstrom aus Haßhaßhaß, sie knackten Holz von Baugerüsten, zerschlugen Flaschen zu mörderisch gezackten Kronen, hatten auf einmal Armevoll Pflastersteine, die sie gegen die anwalzende Staatsmacht schleuderten, Schilde zersprangen, Visiere platzten, Scheiben stürzten blinkend undkulissenhaft zusammen, splitterten in Stückchen, die den Boden zu salzen schienen, Geheul war die Antwort, Meno stand an einen Pfeiler gedrückt, schlotternd, unfähig sich zu bewegen
    und
    doch kamen sie näher, die Rollkommandos und Kordons und schlagreifen Gummiknüppel, Beschreiben Sie Brunft- und Angriffszeremonien des Rotwilds, stach es Meno durch den Kopf, der Koffer war noch da, die Fahrkarte nicht mehr, nur noch ein Schnipsel, hatte sie ihm jemand aus der Hand gerissen
    und
    die schwarzen Hunde, kläffend, so rosig das Zahnfleisch, so weiß und speichelig die Zähne, zerrten an den Leinen der Hundeführer, die von der Kraft der schwarzen Schenkel geschüttelt wurden, sonderbare Gravur der Krallen auf dem glattharten Bahnhofshallenboden, Schleifen und Schnörkel, vielleicht Blumen, Hundeblumen, dachte Meno
    und
    Knüppel pladderten, regneten, sausten hinab, ein Kollern wie von Kastanienkugeln auf die Dächer parkender Wagen, die bizarre Wirklichkeit der Schreie, die ihnen antworteten, Menschen wurden zu Boden getreten, getrampelt, abwehrende Hände, aber die Gummiknüppel hatten geleckt, hatten
    Angst und
    Blut und
    Blut und
    Lust geschmeckt
    und
    da war die Toilette, Meno rannte mit den anderen, der Schwarm, instinktiv, Möglichkeiten. Die Toilette. Das Gewölbe, blaue Kacheln, der Ammoniakgeruch schnitt wie ein Diskus durch den Atem der Eindrängenden. Meno prallte zurück, die Falle, du kommst hier nicht raus, die Falle, was machst du, wenn sie zusperren, rannte hinaus, sah schon die Mienen der Polizisten, der Offiziere hinter ihnen, die Zeigefingerarme. Raus, raus, vor den Bahnhof, raus aus dem Bahnhof. Tränengaskartuschen klimperten auf dem Boden, Menschen flüchteten, eine nachgiebig rumpelnde Zone klaffte wie ein Schnitt durch gespannte Haut, dann brodelte der Rauch auf. Wasserwerfer sprühten Schneisen in dieKnäuel aus Flucht und Zuschlagen, zermatschten das Papier, schoben es zu schleimigen Burgen an die Gleisränder. Meno hob den Kopf, sah Videokameras, sah zerschlagene Reichsbahn-Monitore; Wasser traufte von den Streben, füllte die Halle mit Gischt und metallisch glänzenden Bändern, in die sich zeitlupenhaft Blutfäden einwebten.

    – Papier,
    schrieb Meno,
    Papier, der Berg aus Papier –

    Christian saß in der Bekleidungs- und Ausrüstungskammer, zu der er inzwischen einen Schlüssel hatte, und biß brüllend in einen frischen Packen Soldatenunterwäsche hinein. Manchmal glaubte er verrückt zu werden. Daß er die Kaserne, die Panzer, die Versetzungen von Kompanie zu Kompanie nur träume, ein langer, unangenehmer Spuk, der aber doch auch einmal enden mußte, und dann würde er im Bett liegen, frei, vielleicht sangen die Comedian Harmonists vom Grammophon der Stenzel-Schwestern. Dann ging er in die Kasernen-Bibliothek, ein grotesker Ort, bewacht von einer gutmütigen dicken Frau mit Omaschürze und Strickzeug (sie strickte Nierenwärmer für die »jungen Genossen«). Blonde Bäume flimmerten an den Kasernenstraßen. Die Offiziere grüßten fahrig, Anspannung und Angst auf den Gesichtern. Es gab doppelt soviel Politunterricht. Die Phrasen sickerten aus den Mündern, bedeckten unsichtbar, doch staubanziehend den Boden, wo sie liegenblieben, verachtet, von niemandem ernstgenommen. Es wurde exerziert,

Weitere Kostenlose Bücher