Der Turm
an den Panzern gearbeitet, es sollte ein Herbstmanöver geben. Christian zählte die Stunden bis zur Entlassung. Manchmal glaubte er, der nun fast fünf Jahre gedient hatte, die wenigen Tage Eingesperrtsein nicht mehr ertragen zu können, kletterte aufs Dach des Bataillonsgebäudes, dessen Teerung noch sommermassig und knetig war und zwischen den schwarzen Rotatorenlüftern Thermik köchelte, schrieb Briefe, die ein Küchengehilfe aus der Kaserne in einen zivilen Kasten schmuggelte, las, was Meno ihm schickte (Reclambücher, sowjetische Prosa aus dem Hermes-Verlag, die sich erstaunlich gewandelt hatte, plötzlich gab es blaue Pferde aufrotem Gras). Die meisten Soldaten arbeiteten jetzt in der Volkswirtschaft, in verschiedenen Grüner Betrieben. Christian stand an einer Drehbank und schob Schichten als Hilfsdreher. Die Soldaten wollten nach Hause, aber am Vormittag des 5. Oktober bekamen sie Schlagstöcke, Pfannkuchen lachte: »Erst kriegen wir die Spitze, jetzt den Griff!« Was Christian machen würde, fragte er. Christian wußte es nicht, er konnte sich nichts vorstellen, er wollte sich nichts vorstellen. Polizisten kamen und schulten sie auf dem Regiments-Fußballplatz im Gebrauch. Angriff von links, Angriff von rechts. Erkennen von Rädelsführern, Vorstoß in der Gruppe. Eine Weile hieß es, daß Christians Einheit mit Schußwaffen ausrücken würde. Die Soldaten waren zusammengewürfelt aus übriggebliebenen Kompanien (irgendwann im Frühjahr ’89 war Abrüstung befohlen worden), aus Cottbus, Marienberg, Goldberg, die Versetzungsströme, die mit Sommer ’89 eingesetzt hatten, übersah keiner mehr. Schlückchen war froh, wenn er für alle Kleidung und Essen zusammenkratzte. LKW fuhren auf. Der Küchengehilfe durfte das Kasernentor noch passieren, er brachte neue Gerüchte mit, aus Grün, wo es im Metallwerk zu rumoren begonnen hatte, aus Karl-Marx-Stadt und Leipzig, aus Dresden. Am Abend hieß es: Aufsitzen! Keine Schußwaffen. Gummiknüppel, Felduniform Sommer, Schutzwesten, eine Sonderration Alkohol und Zigaretten für jeden. Die meisten Soldaten schwiegen, starrten zu Boden. Pfannkuchen rauchte.
»Dir ist wohl alles egal«, sagte Christians Nachbar.
»Leck mich«, sagte Pfannkuchen. Er schob den Kopf aus dem Verdeck. »Man sieht nichts, keine Ortsschilder.«
»Wenn man nur wüßte, wo’s hingeht«, sagte ein jüngerer Soldat, er hatte noch ein Jahr zu dienen.
»Nach Karl-Marx-Stadt«, sagte Christians Nachbar. »Logisch. Kommen die wenigsten von uns her.«
»Sind wir schon vorbei«, sagte Pfannkuchen.
»Hast du ’ne Landkarte intus«, fragte ein Gefreiter.
»Plus Kilometerzähler.«
»Also Dresden«, sagte der jüngere Soldat.
»Mensch, ’n paar Schwule aufmischen, ist doch mal was anderes«, sagte der Gefreite. »He, Nemo, gibt’s in Dresden viele Schwule? Bestimmt gibt’s da viele.«
»Klassenfeinde«, soufflierte Pfannkuchen, ließ sich Feuer geben.
»Glaubt ihr, was die uns sagen? Daß das bloß Randalierer sind und so? Aus ’m Westen, und konterrevolutionäre Gruppierungen?« fragte der junge Soldat.
»Du bist wohl auch so einer, hm? Sieh dich vor«, drohte der Gefreite. »He, Nemo, hat’s dir die Sprache verschlagen?«
»Du solltest ihn in Ruhe lassen«, sagte Pfannkuchen leichthin. »Ich laß mir nicht drohen, und ich laß mir nicht den Staat schlechtreden«, sagte der Gefreite.
»Junge, aus welchem finstern Busch habense denn dich losgelassen«, brummte eine schläfrige Stimme von den Plätzen beim Fahrerhaus.
»Du willst also schlagen«, sagte Pfannkuchen.
»Na klar, das sind doch Schweine. Die haben’s doch nicht besser verdient!«
»Na, dann werd’ ich dir auch eins überbraten. Du grunzt so.« »Ich zeig’ dich an, Kretzschmar. Ihr alle habt gehört, was er gesagt hat.«
»Du wirst niemanden anzeigen«, sagte Christian.
»Seh ich auch so«, sagte Pfannkuchen. »Hier hat nämlich keiner was gehört. Nitschewo.«
»Die soll’n Polizisten aufgehängt haben in Dresden.«
»Ammenmärchen!«
»Der Hauptbahnhof soll zu sein. Kaputter als beim Bombenangriff.«
»Das erzählen sie dir! Und du fällst auf den Quatsch rein! Diese Scheißlügen!«
»Wer hat das gesagt? Wer hat eben Scheißlügen gesagt?«
»Und wenn’s stimmt, Mann?«
»Macht endlich dicht«, sagte die schläfrige Stimme.
Die Soldaten schwiegen, rauchten, achteten auf die Nummern der Autos, die den LKW-Konvoi überholten.
Dresden. Absitzen.
Sie standen auf der Prager Straße. Christian sah die Lichter
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