Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
wie etwas Fremdes, Ungekanntes, er kam aus dieser Stadt und schien doch nicht mehr dazuzugehören, und die Dinge, die Gebäude schienen lebendig geworden zu sein: das Rundkino verbargverschämt die Vitrinen mit den Filmplakaten, die Inter-Hotels blickten hochmütig über die Soldaten, Bereitschaftspolizisten, Offiziersschüler hinweg, die sich formierten, von hin- und herrennenden Offizieren, aber auch Blousonzivilisten eingewiesen wurden: Geschrei, Befehle, Drohungen.
    Rücksichtslos.
    Durchgreifen.
    Der Gegner.
    Konterrevolutionäre Aggression.
    Verteidigung der Heimat der Arbeiter-und-Bauern.
    Vor ihnen die auf den Hauptbahnhof zustrebenden Menschen. Die Soldaten schlossen sich in Hundertschaften zusammen, bildeten eine Kette, indem sie die Arme unterhenkelten. Christian ging in der zweiten Reihe neben Pfannkuchen. Vom Hauptbahnhof drang dumpfes, rhythmisches Klopfen. »Voor-wäärts!« schrien die Offiziere. Christian spürte, wie seine Beine weich wurden, das gleiche Gefühl wie bei der Urteilsverkündung im Gerichtssaal, jetzt fliegen können, etwas tun können, das den Wahnsinn beendete, sich umdrehen und einfach gehen, er hatte Angst, er sah, daß auch Pfannkuchen Angst hatte. Der Bahnhof war ein gurgelnd schlingendes Räderwerk, eine erleuchtete Kehle, die Schritte schluckte, Wasser, Qualm und Fieber ausspuckte. Dorthin? Sollte es gehen? Straßenbahnen lagen hilflos wie Kerne in einem schwellenden Fruchtfleisch aus Menschen. Da wurde ein Auto umgestürzt und angezündet, Molotow-Cocktails sprudelten durch die Luft wie brennende Bienenkörbe, die aufplatzten und Myriaden tödlich gereizter Feuerstacheln ausschleuderten. Die Soldaten blieben vor der Heinrich-Mann-Buchhandlung stehen, sperrten die Prager Straße ab. Christian sah Anne.
    Sie stand ein paar Meter entfernt vor der Buchhandlung in einer Menschengruppe und sprach auf einen Polizisten ein. Der Polizist hob den Stock und schlug zu. Einmal, zweimal. Anne fiel. Der Polizist bückte sich und prügelte weiter. Trat zu. Bekam sofort Verstärkung, als jemand aus der Gruppe versuchte, ihn abzuhalten. Anne hatte die Arme vor das Gesicht gelegt wie ein Kind. Christian sah seine Mutter, die am Boden lag und von einem Polizisten getreten, geprügelt wurde. Lampen glitten vorbeiwie Taucher. Um Christian war ein leeres Gebiet, ein verlorenes Dunkel, in das alles rutschte, was er an Schweigen und Schutz und Gehorsam angesammelt hatte. Er nahm den Knüppel in beide Hände und wollte sich auf den Polizisten stürzen, um ihn zu schlagen, bis er tot war, aber jemand hielt Christian, jemand umklammerte Christian, jemand schrie: »Christian! Christian!«, und Christian schrie zurück und heulte und strampelte mit den Beinen und urinierte vor Ohnmacht, dann war es vorbei, und er hing in Pfannkuchens Schraubstockgriff wie ein junger Hund, dem man das Genick gebrochen hat, sollten sie doch machen mit ihm, was sie wollten, er wollte nichts mehr außer in der Zukunft sein, in weiter und noch weiterer Zukunft, er wollte nichts mehr außer weg sein, Pfannkuchen trug ihn nach hinten, Christian schluchzte, Christian wollte tot sein.
    Er kam in die Kaserne zurück, wo ihn am nächsten Tag ein Mitarbeiter der verplombten und vergitterten Türen vernahm. Er studierte Christians Akte, legte den Kopf in die unterm Kinn zu einer schlaffen Matte geflochtenen Hände, brummte »Hm, hm«.
    Christian hatte vom Arzt im Med.-Punkt eine Beruhigungsspritze bekommen, sagte (dachte an Korbinian dabei und Kurtchen: Man sieht sich, Du kommst hier nicht raus, Leb wohl und verzeih): »Schwedt«, sagte es nüchtern, feststellend.
    Der andere stand auf, ging ans Fenster, schabte sich die unrasierte Wange. »Ich überlege noch, was wir mit Ihnen machen. Aber ich glaube nicht, daß Schwedt sinnvoll wäre. Nein. Ich glaube, Sie brauchen …«
    Christian wartete gleichgültig, seine Nerven gaben nicht mehr viel her.
    »Urlaub«, sagte der andere. »Ich werde Sie auf Urlaub schicken. Sie haben ja noch einige Tage. Fahren Sie zu Ihrem Großvater nach Schandau. Obwohl, da machen Sie vielleicht Dummheiten … Also besser nach Glashütte.« Er zog einen Urlaubsschein aus einer Schublade, unterschrieb, stempelte. »Vielleicht fahren Sie nicht über Dresden. Es gibt einen Überlandbus von Grün nach Waldbrunn, und von dort wissen Sie ja weiter.«
    Christian blieb sitzen. Der Urlaubsschein lag vor ihm auf dem Tisch.
    »Sagen Sie einfach danke, Genosse Hauptmann. Wir sind nämlich gar nicht

Weitere Kostenlose Bücher