Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Icarus

Icarus

Titel: Icarus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Russell Andrews
Vom Netzwerk:
Eins
    Der Tag begann wirklich verheißungsvoll für den zehnjährigen Jack Keller.
    Zuerst war Miß Roebuck krank, die Lehrerin der fünften Klasse, was bedeutete, daß er Vertretungsunterricht hatte und nicht viel arbeiten mußte. So konnte er ausgiebig seinen Tagträumen über die Knicks nachhängen, speziell über Willis Reed, den er glühend verehrte. Zweitens: Dom nahm ihn an diesem Abend zu einem Spiel mit, nur sie beide, und es gab nichts, was er mehr liebte, als sich mit Dom ein Spiel der Knicks anzusehen. Seit seinem vierten Lebensjahr, als sie einander kennenlernten, waren die beiden ein Herz und eine Seele. Der brummige alte Mann hatte etwas ganz Besonderes an sich – er erzählte Jack ständig, daß er erst vierundvierzig Jahre alt sei, aber Jack bestand darauf, ihn »alter Mann« zu nennen –, so fühlte Jack sich geborgen und beschützt. Er hatte niemals Angst gehabt vor Doms Wutausbrüchen, die furchtbar sein konnten, wurde auch niemals abgeschreckt durch seine bärbeißige Art, die sonst jeden verrückt machen konnte. Die Leute gingen Dom aus dem Weg, als hätten sie Angst vor ihm, aber Jack begriff nie, was ihnen diese Angst einflößte. Dom war mager und drahtig und früher einmal Boxer gewesen, daher sah er ziemlich hart aus, aber viele Leute sahen hart aus, ohne anderen Leuten gleich Angst einzujagen. Sie konnten eigentlich gar nichts wissen von Dom, von seiner Vergangenheit. Erst recht nicht die Dinge, die Jack wußte. Das war ein Geheimnis. Ein großes Geheimnis. Wenn sie es wüßten, dachte Jack, hätten sie wirklich Angst. Aber manchmal, vor allem, wenn sie zusammen unterwegs waren, dachte er, daß man Doms Geheimnis gar nicht kennen mußte . Vielleicht konnte man es schon ahnen, indem man einfach nur hinsah.
    Andererseits hätte es auch der Arm des »alten Mannes« sein können, der allen Unbehagen bereitete; die Leute wußten nie, wie sie mit so etwas umgehen sollten. Jack hatte niemals darüber nachgedacht, daß man damit auf besondere Art umgehen müßte. Dom war einfach Dom, mit Arm und allem, und wenn sie im Garden waren, ließ er Jack so viele Hotdogs futtern, wie er wollte – sein Rekord lag bei vier Stück –, und Cola trinken, was seine Mom fast nie erlaubte.
    Drittens: Als sei das noch nicht genug, waren an diesem Abend die Celtics in der Stadt, daher würde er aus nächster Nähe die allgemein verhaßten John Havlick und Bill Russell sehen, die Jack, als Knick-Fan, ebenfalls hassen sollte, die er aber, wie er – wenn auch niemals laut – zugeben mußte, im Grunde durchaus mochte.
    Als er aus der Schule kam, blieb sein Tag in etwa so perfekt. Bill Kruses Mom brachte ihn nach Hause, zusammen mit Billy, weil sie nur zwei Häuser weiter wohnten. Jacks Mom war noch nicht von der Arbeit zurück, was prima war, denn Jack war gern allein. Er konnte seine Hausaufgaben machen, sich vor den Fernseher setzen und noch ein wenig träumen. Manchmal träumte er von seinem Vater, an den er sich kaum erinnerte. Seine Mom hatte ihm erzählt, daß sein Dad tot sei, daß er starb, als Jack noch ein Baby war, aber seit kurzem vermutete er etwas anderes. Er war sich nicht ganz sicher, weshalb er ihr nicht glaubte, außer daß es nie wirklich so klang, als wäre es wahr. Er hatte von Männern gehört, die ihre Familien im Stich gelassen hatten oder ins Gefängnis gekommen waren – das war in Hell’s Kitchen nichts Ungewöhnliches; Billy Kruses Dad saß drei Jahre wegen bewaffneten Raubüberfalls – , und etwas an der Art, wie seine Mutter ihre Geschichte erzählte, ließ Jack auf den Gedanken kommen, daß sein Dad gar nicht gestorben war, sondern sich nur aus dem Staub gemacht hatte. Oder daß er abgeholt worden war. Jack fragte Dom einmal danach, denn Dom hatte Jacks Dad gekannt, er war sein Freund gewesen. Bill Keller hatte in Doms Fleischfabrik gearbeitet, und Dom sagte: »Er ist weg, Jack. Und das allein ist wichtig.« Als Jack fragte: »Okay, aber ist er tot?«, erwiderte Dom nur: »Weg ist weg.«
    Gegen fünf Uhr rief seine Mom an und sagte Bescheid, daß Dom ihn in einer halben Stunde abholen würde. »Ist das nicht ziemlich früh?« fragte er, und sie sagte: »Er bringt dich hierher, ins Büro, vor dem Spiel. Ich muß mit dir reden.«
    »Habe ich was ausgefressen?« fragte Jack, und seine Mutter lachte. »Nein, mein Schatz, ich will dich nur sehen. Ich habe dir etwas zu erzählen. Etwas Gutes.«
    »Cool«, sagte er, und das meinte er auch so, denn er mochte seine Mom, sogar noch mehr als

Weitere Kostenlose Bücher