Der Turm
Königreich Dahomey, ein schmales Land an der Westküste Afrikas, Hauptstadt – Hauptstadt? Das mußte man wissen! Schnell denAtlas aufgeschlagen! Wie heißt die Hauptstadt von Benin? Aber man blieb an Togo hängen, ehemalige deutsche Kolonie, das an Benin grenzte; und auch Togo war interessant, und dann entdeckte man Länder wie die Elfenbeinküste und Obervolta mit der Hauptstadt (diesen Namen liebten sie alle, und alle wußten ihn später bei »Name Stadt Land«: Ouagadougou; in Ouagadougou waren Sindbad und seine Mannschaft sicherlich schon einmal gewesen; in Ouagadougou war alles anders).
Wissen, Wissen. Namen, Namen. Gehirne wie Schwämme saugten alles auf, bis sie trieften von Kenntnissen, die sie nicht wieder hergaben, denn diese Schwämme konnte man nicht quetschen. Wissen war, was zählte; Wissen hieß der gehütete Schatz derer hier oben.
Wer nichts wußte, schien nichts zu gelten. Kaum ein schlimmeres Schimpfwort als »Banause«. An den Wochenenden gab es Anatomiestunden bei Richard (er fragte gern die Handwurzelknochen ab, Merkvers: »Ein Schifflein fuhr im Mondenschein – Os lunatum – dreieckig um das Erbsenbein, vieleckig groß – multangulum majus –, vieleckig klein – multangulum minus –, am Köpfchen – Os capitatum – muß der Haken sein«) und Vorträge über berühmte Ärzte: Fabian, Muriel, Robert und Christian, die Medizin studieren wollten, saßen in Richards Arbeitszimmer und wiederholten Merkstoff: »Wann begann Sauerbruch in München zu arbeiten? – Im Spätsommer 1918. – Nenne drei Wegbereiter der Brustkorbchirurgie und eine ihrer Leistungen. – Bülau. Bülaudrainage. Rehn. Erste OP am offenen Herzen. Mikulicz. Mikuliczsche Linie, Klemme; OP am Brustteil der Speiseröhre, möglich durch Sauerbruchs Unterdruckkammer. Sauerbruchs Lehrer in Breslau.« Muriel und Fabian schienen eher aus Gewohnheit mitzutun (außerdem gab es bei Anne schmackhaftes Essen); Christian bewunderte Sauerbruch, war fasziniert von den Geschichten über Robert Kochs heroischen Aufstieg, grub sich durch das in Schreck-Rotorange gehüllte »Ärzte im Selbstversuch« Bernt Karger-Deckers, durch die vielbändige Reihe »Humanisten der Tat«, die ein Fach im Bücherschrank seines Vaters füllte, schlug beklommen die Anatomie-Atlanten auf, wo tausende lateinische Bezeichnungen auf akribisch gezeichnete Körperteile wiesen: »Das muß man alleslernen im Studium?« – »Das ist Stoff in den ersten beiden Jahren, dazu kommt Biochemie und Physiologie, Chemie, Biologie, Biophysik, Mathematik für Mediziner, und leider immer noch Marxismus-Leninismus«, antwortete Richard. Christian ließ sich auch nicht durch besorgte Einsprüche Annes beirren (»Laß sie doch spielen gehen, Richard, ihr stopft sie alle mit Büchern voll; ihr übertreibt das, und ich glaube nicht, daß es gut ist«) und schlang Wissen in sich hinein, soviel er konnte. Denn auch er wollte berühmt werden und anerkannt sein von Richard und Niklas, Malthakus und Meno, den Türmern. Auch sein Name sollte einmal leuchten. Christian Hoffmann – der große Chirurg und Forscher, der Bezwinger der Krebskrankheit. Der erste Nobelpreisträger der DDR, beklatscht in Stockholm. Danach würde er wahrscheinlich abhauen, das Angebot einer englischen oder amerikanischen Elite-Universität annehmen. Oder doch ein Ökonom und Betriebsdirektor wie Ulrich werden? Jeden Morgen ein aufgeräumter Schreibtisch, die Sekretärin bringt Schriftstücke, die über das Wohl und Wehe eines ganzen Landes befinden, bitte um Ihre Unterschrift, Genosse Direktor. Genosse: Das war dann freilich nicht zu umgehen. Christian horchte in sich hinein: Nein, keine Skrupel. Wenn man dafür Direktor wurde. Oder ein Naturwissenschaftler wie Meno. Insektenforscher, und zig Bienenarten enden auf H wie Hoffmann. Physiker – und an den Grundlagen der Welt tüfteln! Die Energien der Zukunft finden! Ezzo sah sich als Kosmonaut. Sindbad und Tecumseh waren gut. Chingachgook die Große Schlange. Trapper sein wie Lederstrumpf. Cellist sein auf den Bühnen der Welt, beifallumrauscht – aber dafür, Christian spürte es und sein Lehrer deutete es an, reichte es nicht; es reichte für den Hausgebrauch, immerhin, geschenkt; konnte man eben Staatspräsidenten überraschen, wenn man als Nobelpreisträger für … (egal) zum Cello griff und eine von Bachs Suiten spielte. Fabian, angetan von Langes Erzählungen, strebte in die Tropen, wollte Schiffsarzt und ein neuer Albert Schweitzer werden. Robert
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