Der Turm
blaß wie ein Kartoffelsproß. Manchmal las er zwei oder drei Bücher am Tag und wußte am Ende von Tagore, beispielsweise, nur noch, daß in der verflossenen Woche schon fünf Bücher dieses Autors hinter ihm lagen. Er durchpflügte die Waldbrunner Bibliothek, brachte die Gesamtausgaben Max Plancks, Rutherfords, Albert Schweitzers nach drei Wochen zurück, um für die nächste Woche die nächsten verlockenden Stapel mitzunehmen, und je dicker ein Buch war, desto besser! Christian liebte dicke Bücher. Mit 500 Seiten begannen die wirklichen Romane. Mit 500 Seiten begann der Ozean, drunter war Bachpaddeln. Vergeblich schüttelte Meno den Kopf und wies darauf hin, daß ineiner kurzen Geschichte Tschechows mehr Welt, mehr an Leben und Kunst stecken konnte als in manchem bloß dickleibigen Wälzer. Aber Christian griff nach den Blauwalen, wie er die großen epischen Romane Tolstois, Dostojewskis, Thomas Manns, Musils und Doderers nannte, er liebte Thomas Wolfe, aus dessen Büchern Schiffssirenen, Musik von den Südstaatendampfern, die Pfiffe der amerikanischen Kontinentalzüge klangen. Er las, daß Eugene Gant (also Wolfe selber, dachte er) in zehn Jahren zwanzigtausend Bücher gelesen hatte (was Christian schier unvorstellbar schien), ein wahrer Buchstabensaufaus also.
»Jetzt knallen bei Christian alle Sicherungen durch«, sagte Verena.
500 Seiten mußten es an freien Tagen sein, dafür ließ er Chemie und Physik beiseite. Nun geschah folgendes: Robert hatte sich in irgendeinem Balzac festgefressen und schwartete einfach so, an einem einzigen Tag und aus heiterem Himmel, 555 Seiten weg. 55 Seiten mehr als Christian. Das durfte es nicht geben; Christian war in puncto Lesen und Lernen der Chef im Haus, Roberts Rekord mußte gebrochen werden. Eines Tages stand Christian früh um vier Uhr auf, wusch sich, frühstückte nicht zu reichlich und begann zu lesen. An diesem Tag wollte er nichts lernen, er sollte ganz und gar dem neuen Rekord gewidmet sein. Er las von 4.30 Uhr bis 24.00 Uhr ununterbrochen, allerdings mit zwei überaus lästigen Pausen durch Mittagessen und Abendbrot, die die besorgte Anne ihm aufdrängte. Schlag Mitternacht hatte er 716 Seiten gelesen – und vergessen, aber was machte das, der Rekord war gebrochen.
Er mußte berühmt werden, dann würden sie ihn zu Hause anerkennen.
Eines Abends in Waldbrunn tauchte in einem finsteren Winkel seines von Vokabeln und Formeln überreizten Hirns der Etappenplan auf. Christian schaltete das Licht aus und ging ans Fenster. Das Klassenzimmer lag nun im Dunkeln, nur das Metall der Stühle in der Fensterreihe, die auf die Tische gestellt worden waren, schlürfte ermattet vom Licht der Hoflaterne. Er wußte nicht, wie spät es war. Die Straßenlampen brannten längst, die Konturen des Waldbrunner Neubaugebiets verschmolzen mit den Hügelwellen über dem Kaltwasser. Hinter den beidenTurnhallen, flachen Typenbauten aus Glas und Beton, lag die Anhöhe, auf deren Kamm die F 170 lief. Das Scheinwerfergelb der Fernlaster stöberte über das Roggenfeld auf der Anhöhe, den Weg von der Schule in die Stadt.
Der Große Mensch. Etappe 1: das Lernen, das Studium, die Bildung des Geistes – die betrieb Christian jetzt. Eine hohe Bildung war die erste Voraussetzung, um ein Großer Mensch zu werden. Außerdem hatte der Große Mensch Kultur – und so ging Christian, wenn der Unterricht vorbei war (in der Regel gegen 13 Uhr) statt zum Mittagessen in den Internatsklubraum und okkupierte für eine Stunde den Gemeinschafts-Plattenspieler. Dabei kümmerte es ihn nicht im geringsten, ob andere diesen Plattenspieler benutzen wollten. Außer ihm hörte meist nur Swetlana – und die schwärmte vom Sozialismus, wollte nach Moskau an die Lomonossow-Universität und hörte rote Liedermacher, für Christian »das Letzte«. Jede Minute, die der Plattenspieler ohne diese »Brechmittel« lief (so Christian, Jens, ein paar Jungs aus der 12.), war ein Gewinn für die Kultur. Er sah sich als ernsthaften und reifen Menschen, und als solcher hörte er klassische Musik; allerdings stand er mit dieser Ansicht im Internat ziemlich allein. Darüber regte Christian sich nicht auf: die anderen waren Banausen, und wie konnte ihnen, die vom Dorf kamen, die Tiefe und der Ernst eines Bach, die Heiterkeit und kosmische Abgeklärtheit eines Mozart, die Empfindungsgewalt eines Beethoven zugänglich sein. Da Swetlana beschränkt war (diese Meinung teilte er mit mehreren Jungs aus seiner Klasse), brauchte sie auch
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