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Liebesdienste / Roman

Liebesdienste / Roman

Titel: Liebesdienste / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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    E r hatte sich verfahren. Er war es nicht gewohnt, sich zu verfahren. Er war ein Mann, der genaue Pläne machte und sie zielstrebig in die Tat umsetzte, aber jetzt schien sich alles gegen ihn verschworen zu haben in einer Weise, wie er es seiner Ansicht nach nicht hatte vorhersehen können. Er hatte zwei stumpfsinnige Stunden auf der A1 im Stau verbracht, so dass er erst am späten Vormittag in Edinburgh angekommen war. Dann war er hilflos in ein Netz aus Einbahnstraßen geraten, und anschließend hatte ihm eine Straße, die wegen einer geborstenen Wasserleitung gesperrt war, einen Strich durch die Rechnung gemacht. Auf der Fahrt nach Norden hatte es geschüttet, ununterbrochen und unerbittlich, und erst als er die Ausläufer der Stadt erreichte, hatte der Regen etwas nachgelassen. Das Wetter schien jedoch die Menschenmassen nicht weiter abgehalten zu haben – es war ihm zu keinem Zeitpunkt in den Sinn gekommen, dass sich Edinburgh mitten im »Festival« befand und sich ausgelassene Horden herumtrieben, als wäre gerade das Ende eines Kriegs erklärt worden. Sein bislang engster Kontakt zum Edinburgh Festival hatte darin bestanden, dass er eines Abends zufällig die
Late Night Review
eingeschaltet und einen Haufen Mittelschichtwichser gesehen hatte, die über irgendein unglaublich elitäres alternatives Theaterstück debattierten.
    Er landete schließlich im schmutzigen Herzen der Stadt, in einer Straße, die sich auf einem tieferen Niveau als der Rest der Stadt zu befinden schien, wie eine verrußte urbane Schlucht. Infolge des Regens war das Kopfsteinpflaster rutschig und schmierig, und er musste vorsichtig fahren, weil es auf der Straße nur so von Menschen wimmelte, die sie aufs Geratewohl überquerten oder in kleinen Knäueln darauf herumstanden, als hätte ihnen noch nie jemand erklärt, dass Fahrbahnen für Autos da waren und Gehwege für Fußgänger. Eine Menschenschlange wand sich die gesamte Straße entlang – Leute, die darauf warteten, in etwas eingelassen zu werden, das aussah wie ein Bombenloch in der Mauer, sich jedoch auf einem großen Plakat neben der Tür rühmte, der »Festival-Veranstaltungsort Nr. 164« zu sein.
    Der Name auf dem Führerschein in seiner Brieftasche lautete Paul Bradley, ein Name, den man schnell wieder vergaß. Er hatte sich mittlerweile mehrere Schritte von seinem richtigen Namen entfernt, einem Namen, der sich nicht länger anfühlte, als wäre es jemals der seine gewesen. Wenn er nicht arbeitete, nannte er sich oft (aber nicht immer) »Ray«. Schlicht und einfach. Wie der gute Junge von nebenan, wie der böse Junge von nebenan. Guter Ray, böser Ray. Er liebte es, die Identität zu wechseln, durch die Ritzen zu schlüpfen. Der gemietete Peugeot, den er fuhr, war genau richtig, kein auffälliger Macho-Wagen, sondern ein Auto, das ein gewöhnlicher Mann fahren würde. Ein gewöhnlicher Mann wie Paul Bradley. Sollte ihn jemand fragen, was er tat, was Paul Bradley tat, würde er sagen: »Langweiliges Zeug. Ich bin ein Bürohengst, schiebe in der Buchhaltung Papiere hin und her.«
    Er versuchte zu fahren und gleichzeitig den Stadtplan von Edinburgh zu entziffern, um aus dieser höllischen Straße zu entkommen, als ihm jemand fast vor den Wagen lief. Es war ein Typ, wie er ihn verabscheute – ein junger dunkelhaariger Kerl mit einer dicken schwarzen Brille, Zweitagebart und einer Kippe im Mundwinkel. In London gab es Hunderte davon, und alle wollten sie möglichst wie französische Existenzialisten aus den sechziger Jahren aussehen. Dabei war er überzeugt, dass keiner von ihnen jemals ein Buch über Philosophie aufgeschlagen hatte. Er selbst hatte sie alle gelesen, Plato, Kant, Hegel, er dachte sogar daran, eines Tages einen Abschluss zu machen.
    Er trat heftig auf die Bremse, kam vor dem bebrillten Typen zum Stehen, was diesen jedoch veranlasste, zur Seite zu springen wie ein Stierkämpfer in der Arena. Der Typ war wütend, fuchtelte mit der Kippe herum, schrie, zeigte ihm den Finger. Keine Spur von Höflichkeit, keinerlei Manieren – ob seine Eltern stolz auf ihre Leistung waren? Er hasste Raucher, es war eine widerliche Angewohnheit. Er hasste Typen, die einem den Finger zeigten, »Verpiss dich!« schrien und mit ihrem dreckigen, nikotinfleckigen Mund Spucke verspritzten.
    Er spürte den Aufprall ungefähr so heftig, als hätte er in einer dunklen Nacht einen Dachs oder Fuchs überfahren, nur dass er von hinten erfolgte und ihn nach vorn stieß. Nur gut, dass

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