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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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nebenan, Gudruns Deklamationen von »Hach, wer ist der Schurke, sprich«, in die Gongschläge der Standuhr mit dem Messingziffernblatt, die über dem Teppich, vor der Schrankwand mit »Dehio«-Bänden, alphabetisch geordneten Musiker-Biographien und alteuropäischen Briefwechseln verebbten, mischten sich die Namen aus der Glanzzeit der Oper und der Musik, die für Niklas eine deutsche Kunst war, bei allem Respekt vor den Beatles und ABBA, über die er in den Themenabenden im »Freundeskreis Musik« (beim Musikkritiker Lothar Däne in der Schlehenleite) kenntnisreich zu referieren wußte. »Die Pentatonik … nun, wenn die Kapelle in Japan spielt, können sie von unserer Musik nicht
    Niklas erzählte von den Sängern der Dresdner Oper, von den großen Dirigenten der Vergangenheit. An die Fenster klatschte der Regen, wirbelte der Schnee, die Flocken klebten hundertäugig an den Scheiben und tauten langsam. Im Sommer saßen Christian und Niklas auf der Veranda neben dem Musikzimmer. Sie roch nach den weißgelackten Holzmöbeln, die aus Gudruns Elternhaus stammten, nach dem Tabak aus Niklas’ Shagpfeife, die er an den lauen Abenden, bei offenen Fenstern, inmitten von Bienengesumm, orange-blauen Dämmerstreifen und Amselrufen genüßlich zu rauchen pflegte. Im Winter hörte Christian Niklas’ weit ausholenden, Schleppnetze aus Erinnerungen auffischenden Beschwörungen im Wohn- und im Musikzimmer zu, wo Niklas sich erst auf einen Stuhl am Ausziehtisch, dann, wenn es ans Musikhören ging, auf die Récamiere vor dem wassergrau gewordenen Spiegel setzte. Die Schallplatte auf dem Teller des »HiFi«-Apparats mit der Buchenimitat-Furnierleiste begann sich zu drehen, und sie lauschten den Sängern, von denen Niklas gesprochen hatte. Dann, so empfand Christian, geschah etwas mit dem Zimmer: die grüne Tapete mit den Urnensternen und Strahlentieren schien sich zu öffnen; die Wiener Uhr bekam ein Gesicht, die gelbe Kunst-Rose unter dem Glassturz auf dem Sekretär in der Ecke, an dem Niklas seine Korrespondenz mit Tinte auf Spechthausener Bütten schrieb, schien zu wuchern und sich zu verzweigen, wie es in Silhouettenfilmen in den Tannhäuser-Lichtspielen geschah, wo Schattenpflanzen (Rosen? Disteln? weder Muriel noch Christian, noch Fabian wußten es) ein Schloßumrankten; die Fotografien der Sänger an den Wänden waren nicht mehr nah, wirkten wie heraufgetrieben aus den Kajüten versunkener Schiffe; das Wetzgeräusch der Abtastnadel klang wie Meeresdünung. Niklas saß vorgebeugt, angespannt, und ging die Melodiebögen und Einsätze mit. Christian beobachtete seinen Onkel verstohlen, auch er schien der Gezeitenwelt, dem Meeresrauschen aus lang vergangenen Tagen, anzugehören, nicht der Gegenwart; und manchmal erschrak Christian sogar ein wenig, wenn Niklas über Alltagsangelegenheiten wie Schneeketten für den Shiguli oder das letzte Spiel von Dynamo Dresden sprach; er schien in dieser Welt, wo es die »1000 Kleinen Dinge« und den Fluch des Treppensteigens in Behörden gab, nur zu Besuch zu sein, umhüllt vom Mantel einer gütigen Fee. Christian mußte sich in seine Alltagswelt zurücktasten, wenn er sich von Niklas verabschiedete, mußte auf dem Heimweg (schräg gegenüber lag die Karavelle), den er oft auf Umwegen verlängerte, wieder zurückfinden, den Kopf voller Sänger- und Komponistennamen, Anekdoten aus dem Staatskapellenmilieu vergangener Jahrzehnte, voller Bilder deutscher Dome und Details aus dem Dresden der Vorkriegszeit.
    Und bei Malthakus waren es die Briefmarken, die historischen Postkarten mit ihren Szenerien, die unter den kommentierenden Erzählungen des Händlers zu kleinlebendigen Tableaus wurden; die Alben mit den Marken aus fernen Ländern: »papillons, 100 différents«, »bateaux, 100 différents«; Schmetterlinge aus Guyana und Réunion, Gabun und dem Senegal; Schiffsmotive: »République du Benin«, Indochina, São Tomé e Príncipe; dreieckige, an den Hypotenusen über eine Perforationslinie verbundene Marken aus Afghanistan, die der Händler geduldig analysierte: »Hier, das Schiff mit den rotweiß gestreiften Segeln, das ist eine Hanse-Kogge« (Christian kannte sie von einem Glastüren-Schliff im Treppenhaus der Karavelle); »auf der anderen Seite, das mit den blutroten Segeln, ein venezianisches Kauffahrtei-Schiff«; dann ließ er einen Globus kreisen und tippte mit dem Finger auf die Orte, die den Heinrichstraßen- und Wolfsleitenkindern sagenhaft in den Ohren klangen – Benin, vormals das

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