Der Turm
in solchen Momenten die Zeitung zusammen.
»Physiker und Mediziner sind die schlimmsten«, bestätigte Meno gelassen. »Fälschen auf Teufel komm ’raus und haben keine Ahnung, nicht die Bohne. Und geldgierig sind sie! Saugen die Verlage aus wie Vampire.«
»Ihr braucht euch über mich nicht lustig zu machen, ich habe meine Erfahrungen«, beharrte Gudrun. »Neulich habe ich gelesen, daß die Affen deshalb Affen sind, weil sie immer bloß Bananen fressen. Du kannst ja deine Kinder Affen werden lassen. Ich nicht! Und du, Meno, hast ja nicht mal welche.«
»Salve«, grüßte Niklas. »Ich hab’ was für dich.« Christian war gespannt, was es diesmal war, eine neue Schallplatte aus Trüpels Schallplattengeschäft »Philharmonia«, Ansichtskarten von Malthakus, oder ein Stück Zuckerkuchen vom Bäcker Walther an der Rißleite? Niklas liebte Überraschungen und tat geheimnisvoll, schlurfte in zerzausten Pantoffeln, eine Hand in der Tasche seiner schlottrigen Hose, mit der anderen energetisch in der Luft klavierspielend (oder prüfte er Fingersätze auf einem imaginären Bratschen-Griffbrett?) über das weiche PVC des Flurs zur Schliffglastür des Wohnzimmers, die verführerisch warmes Licht erhellte. Gudrun zog sich ins Schlafzimmer zurück, repetierte Rollen oder stopfte, acht Fingerhüte auf den Fingern, was ein leises kastagnettenartiges Klackern erzeugte, Strümpfe in der Küche, wo die Schränke schiefhingen und die Fensterbretter vom Schwarzen Schimmel zerfressen waren, wo von den freiliegenden Rohren die Farbe platzte und Rezept-Stickereien für Salzburger Nockerln, Kürbissuppe und eine Speise mit dem Namen »Betriebsunfall« (ein außerordentlich wohlriechendes, widerlich aussehendes, von den Kindern mit langen Löffeln bewegtes Vielerlei) kaum die Wasserflecken an den Wänden verdeckten.
Und dann begann wieder, was Christian mit dem Wort Unterricht nicht bezeichnen mochte, obwohl es einen Lehrer, Niklas, und einen Schüler, Christian, gab (nur selten noch Ezzo oder Reglinde, manchmal noch Muriel und Fabian Hoffmann, die Wolfsleitenkinder); wenn es auch meist der Schüler war, der fragte, und der Lehrer, der die Antworten gab, aber »Unterricht« traf es nicht, das hätte Christian zu sehr an Waldbrunn erinnert. Mit den Schulstunden dort hatten die Abende bei Niklas – und auch bei den anderen Türmern, die Christian besuchte – wenig zu tun. Wenn Ezzo und Reglinde Zeit hatten, brachte Christian das Cello mit, dann spielten sie Streichquartette, manchmal setzte sich Gudrun ans Klavier, und sie gingen einen Mozart oder das Forellenquintett durch, bei dessen beschwingtem Thema Gudrun regelmäßig ins Entzücken geriet und mitträllernd aus den gelblich verfärbten, im Diskant und Baß hin und wieder klemmenden Tasten des »Schimmel«-Pianos herausholte, was herauszuholen ging.
»Salve.« Im Wohnzimmer pulste der Kachelofen Wärmeringe ab, Briketts polterten auf den Rost, der Wind heulte im Schornstein. Manchmal stoben Funken auf das Blech vor dem Feuerungsloch. Die Fenster klapperten und pochten selbst bei Schneefall, wenn es draußen still war; das Holz der Rahmen war rissig, die altmodischen Baskülverschlüsse grünspanüberzogen, zwischen den Fenstern, auf dem Lateibrett, klemmten, wie in vielen Wohnungen hier oben, dicke Polsterwürste, hergestellt aus Woll- und Kleiderresten in der Schneiderei »Harmonie«. Niklas goß ein Glas Margonwasser für Christian und für sich ein Wernesgrüner ein, strich über den abgeschabten Cordsamt der Couchgarnitur, legte den Kopf zurück und sagte »Ah« und »Nun ja«, zum Stuckfries an der Decke, zu den Querner-Gemälden an den Wänden: schwerblütige, in erdigen Farben gehaltene Erzgebirgsbilder, Schneeschmelze um den Luchberg; ein Weg mit knorrigen Obstbäumen in Börnchen; eines der berühmten Porträts des Bauern Rehn, die spitzen Züge, die Blauaugenfülle darin, die Hände, krumm und knotig wie Wurzeln, beeindruckten Christian immer wieder. Wie auch das Porträt Reglindes in der Ecke mit dem honiggelben Ohrensessel: Es war eins der letzten Bilder des Malers gewesen, Reglinde elf oder zwölf Jahre alt, in einem einfachen Kleid, neben ihr einige Puppen, die Christian von früheren Winter-Theaterabenden bei Tietzes und den Wolfsleiten-Hoffmanns kannte; die verschreckten Augen Reglindes auf dem Bild beschäftigten Christian oft noch beim Nachhausegehen. Niklas erzählte von vergangenen Inszenierungen. In das Klingen der »Abtsuhr«, Ezzos Übungen auf der Geige
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