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Der Überlebende: Roman (German Edition)

Der Überlebende: Roman (German Edition)

Titel: Der Überlebende: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst-Wilhelm Händler
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schrieb, war eben der Mathematiklehrer. Zu meinen Klassenkameraden hatte ich wenig Kontakt, zu anderen Kindern überhaupt keinen, wer keine Freunde hat, muss sich auch keine Gesichter merken. Später im Beruf half ich mir mit Kriterien, die sich an Kleidung, Frisur und Stimme orientierten, und logischen Schlussfolgerungen, an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit, das konnte nur der und der oder die und die sein. Auf die Einweihungsfeier des Werks hatte ich mich akribisch vorbereitet. Von jedem der Eingeladenen hatte ich mir zahlreiche Bilder geben lassen, so dass ich mein Kriteriensystem anwenden konnte. Die Leute, die nicht auf der Gästeliste standen, waren nicht wichtig, sie musste ich nicht erkennen oder wiedererkennen.
    Wenn ich ein Gesicht zuordnen muss, für das ich keine Kriterien habe, dann zeichne ich es im Geiste auf einem Karoblock. Wo es gilt, Linien abzubilden, schraffiere ich die Kästchen, wo es keine Linien gibt, bleiben die Kästchen leer. Je besser ich in Form bin, desto kleiner sind die Kästchen auf dem Block in meinem Kopf. Dann vergleiche ich die Skizzen nicht mit Erinnerungsbildern, sondern mit Fotografien, an die ich mich entsinnen kann. Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis – handelt es sich nicht um jemanden, den ich nur einmal getroffen habe oder der völlig unwichtig ist, komme ich auf den Namen.
    Ich musste Peters Gesicht nicht im Kopf zeichnen. Er telefonierte, ich erkannte ihn an seiner Stimme. Während er sprach, sah er mich abwägend an. Denke ich jetzt daran zurück, war es ein Blick, der mich schlussendlich verurteilte. Aber auf der Brücke nahm ich das nicht wahr.
    Als ich Peter erkannt hatte, musste ich mich zurückhalten, damit ich ihm nicht rundheraus verkündete: »Ich habe nie wirklich geglaubt, dass du mich verrätst!«
    Ich streckte beide Hände aus und lächelte ihn an. Er legte seine Hände in meine. Aber er lächelte nicht zurück.
    Vor meinem geistigen Auge tauchte die Szene auf, wie die S-bots gelernt hatten, zusammen einen Spalt zu überqueren. Der Spalt war etwas breiter als der Umfang eines S-bots. Die einzelnen S-bots fielen einfach in den Spalt. Verkoppelt, neigte sich der erste S-bot in den Spalt hinein, die anderen schoben ihn weiter, seine Raupenbänder berührten die gegenüberliegende Wand, die anderen drückten ihn gegen die Wand, an der er schließlich aus eigener Kraft hochkletterte. Hatte er die Kante überwunden, zog er die anderen nach, so dass die mittleren S-bots den Spalt überbrückten. Die letzten S-bots fielen wieder in die Kluft, aber sie wurden von den anderen S-bots hochgezogen.
    Obwohl ich so glücklich war, fühlte ich, dass ich in eine Kluft fallen würde. Dabei gab es nichts, worauf sich diese Vorahnung gründen konnte. Es schien für alle Zeiten ausgeschlossen, dass ich Peter mit Sondra in einer verfänglichen Situation überraschen würde.

    Maren, nichts, gar nichts wies darauf hin, dass du die Diagnose bekommen würdest.

    Wir ertrinken in Wahrheiten. Wir streben an, dass wir alles zugleich ab- und aufrufen können, dass alles immer Gegenwart ist. Du hast protestiert, es gibt Inseln im Meer der Wahrheiten. Ich fragte dich, welche, doch du antwortetest nicht. Ich weiß, was du meintest. Du wolltest es nicht aussprechen. Auf keinen Fall sollte es so wirken, als ob deine Gobelins die Wahrheit sind.
    »Wir arbeiten daran, dass uns das Meer verschluckt, ehe wir dazu kommen, es zu betrachten.« Was ich meinte, war der Effekt unserer Steuerungen.
    »Wir sind nicht da und sehen trotzdem.«
    Maren, hast du gewusst, was kommt?

    Ich kann mich nicht mehr an den genauen Tag entsinnen, an dem wir über diese Dinge sprachen, ich weiß nur noch, es war zwischen dem Termin in der Universitätsklinik und dem Essen, dem letzten, zu dem wir einluden. Professor Jangor hatte einen dichten Oberlippenbart und einen spitzen Kinnbart, in dem trotz seines fortgeschrittenen Alters nur wenige graue Haare aufschienen. Ich habe vom ersten Moment des Kennenlernens an geglaubt, er bringe Unglück. Das hat sich bestätigt.
    Ich fand es deplatziert, dass er uns in einen Hörsaal bestellte. Er lehnte sich an das Katheder, wir durften in der ersten Reihe Platz nehmen. Auf unbequemen Sperrholzsitzen hinter dem ersten von vier konzentrischen Kreissegmenten aus rötlichem Holz, die den Studenten als Schreibunterlage dienten und die die gesamte Breite des Hörsaals ausnutzten. Die einzelnen Plätze waren mit schwarzen, auch aus der Ferne deutlich erkennbaren

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