Der übersehene Mann: Roman
ihnen aufgebaut.
Oh, Du warst so ein schönes Baby, Lydia. Wir haben uns alle beide aus dem Stand in Dich verliebt.
Du hattest so schöne kastanienbraune Löckchen und süße rosa Bäckchen und Du hast die ganze Zeit gelächelt, nie geweint. Ich war so stolz auf Dich. Wir hätten uns keine perfektere perfektere Tochter wünschen können.
Lydia tupfte sich die Augen trocken. Das Wort »perfektere« war durchgestrichen und noch einmal geschrieben worden. Also vielleicht doch nicht so perfekt? Sie fand den Fehler aufschlussreich.
Es tut mir leid, dass ich Dir nichts über Deine richtige Mutter erzählen kann. Die Nonnen haben nur gesagt, Du seist abgelegt worden, aber sie sind nicht weiter darauf eingegangen. Sie hat Dich mit Nichts zurückgelassen, Lydia. Wir haben Dir einen Namen gegeben und einen Platz in der Welt. Wir haben Dir eine Chance gegeben, also ärgere Dich bitte nicht allzu sehr über uns. Es war alles nur zu Deinem Besten getan.
Mein Liebes, weil wir Dich so sehr lieben, fanden wir es nur gerecht, dass Du nach unserem Tod die Gelegenheit erhältst, Deine wirkliche Mutter zu finden, falls Du das möchtest. Ich habe Dir alles gesagt, was Du wissen musst. Falls es irgendwo noch Unterlagen über sie gibt, so wäre das wahrscheinlich in dem oben genannten Ort in Londonderry.
Aber grabe nicht zu tief nach Antworten, liebe Lydia. Wenn sie sich Dir nicht offenbaren, lass die Dinge, wie sie sind. Manchmal ist es besser, wenn man nicht versucht, der Vergangenheit ihre Geheimnisse zu entreißen.
Ich hoffe, Du wirst ein glückliches Leben führen, mein Liebes. Bewahr uns in Deinem Herzen und sei immer freundlich. Ich hätte mir gewünscht, dass ich Dir zum Ende meines Lebens eine bessere Freundin hätte sein können.
Für immer die Deine, mein Liebes,
Deine Dich liebende Mutter
Elizabeth.
Sie steckte den Brief in den Umschlag und wappnete sich. Sie wollte stark sein. Vor einer Woche war sie in Mr Browns Büro in Tränen ausgebrochen, und es kam ihr vor, als habe sie seitdem nicht mehr mit dem Weinen aufgehört.
Sie öffnete ihre Puderdose und versuchte zu retten, was zu retten war. Wenn das mit ihrem Leben doch auch so leicht ginge! All die Straßen, die sie seit der Kindheit genommen hatte, waren mit einem Mal zu Einbahnstraßengeworden. Sie stand am Scheideweg – ohne Wegweiser in die richtige Richtung. Sie hatte keinen Vater und keine Mutter mehr. Sie war eine Waise, ein Niemand. Jetzt verstand sie, was Tante Gladys gemeint hatte. Wieder sah sie die glänzenden Lippen die Worte ausspucken, die sie so verwirrt hatten.
Du hast ja keine Ahnung! Die Wahrheit ist immer kompliziert. Jetzt, wo du alleine bist, musst du dich der harten Wahrheit stellen.
Ja, in der Tat: Lydia hatte nichts geahnt. Und Gladys hatte alles gewusst. Bei dieser Erinnerung knirschte Lydia mit den Zähnen und beschloss, dass sie ihre sogenannte Tante sehr lange nicht wiedersehen würde.
Sie sah das Altersheim vor sich auf dem Hügel an und meinte, lieber sterben zu wollen, als durch die Unheil kündenden Türen zu gehen. Welche Tatsachen hatte dieses Gebäude denn noch zu verbergen, die sie nicht bereits kannte?
Am besten, sie brachte es jetzt hinter sich.
Mit diesem Entschluss stieg sie widerstrebend aus dem Auto und schritt langsam die Kiesvorfahrt hinunter. Die Schönheit dieses Nachmittags stand so sehr im Widerstreit mit dem Aufruhr in ihrem Inneren. Gottes Schöpfung zeigte sich von ihrer schönsten Seite: die Tellerhortensien, die Hecken mit dem Limonenduft, das sonnenbeschienene Gras; und überall das Glissando des süßen Gesangs der Amsel – wie um sie zu beruhigen. Dieser Frieden, diese Harmonie um sie herum – und doch eine Welt entfernt.
Am Tor klingelte sie viermal hintereinander, aber sie bekam keine Antwort. Sie wollte gerade wieder gehen, da wurde die Tür von einem sehr großen Mönch geöffnet. Er trug ein braunes Habit, in der Taille durch eine braune Hanfkordel gehalten. Er war jung, aber wegen seines rasierten Kopfes und der freudlosen Augen machte er den Eindruck eines viel älteren Mannes. Seine Füße steckten in leichten Sandalen.
»Ich bin Lydia Devine. Ich möchte mit Vater Finian sprechen.«
Der Gesichtsausdruck des Mönchs blieb unbewegt, was sie etwas aus der Fassung brachte. Vielleicht hatte er ein Schweigegelübde abgelegt;sein Gesicht sah aus, als habe er harte Jahre der Disziplin und Kasteiung hinter sich – und als bereue er das aus irgendeinem Grund.
»Er erwartet mich«, fügte sie
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