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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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wieder an mich, mein Liebling, wenn wir in deinem neuen Heim sind.«

32
    Lydia hatte Schwierigkeiten, sich in den engen Gassen von Derry zurechtzufinden. Sie war noch nie in einer Stadt Auto gefahren und bog ein paarmal falsch ab, bevor sie das Ziel ihrer Reise erreichte.
    Das Altersheim Mount Carmel war ein düsteres, dreigeschossiges, efeubewachsenes Gebäude an einem Hang, zu dem eine lange Kiesauffahrt führte. Üppige grüne Sträucher und Rhododendren schirmten das Haus von dem Parkplatz ab, auf den Lydia nun einbog.
    Sie parkte unter den ausladenden schattigen Ästen einer Kastanie und stellte den Motor ab. Der Nachmittag war ungewöhnlich heiß. Obwohl es Mitte September war, machte der Sommer noch keine Anstalten, sich zu verabschieden. Ich sollte jetzt in der Schule sein, dachte sie, und sofort verspürte sie einen Stich des Bedauerns wegen des anderen Lebens, das sie einmal geführt hatte; ein Leben, das mit dem Tod ihrer Mutter geendet und seit dem Brief mit ganz anderen Vorzeichen wieder begonnen hatte.
    Sie holte den Büttenumschlag aus ihrer Tasche hervor und drehte und wendete ihn hin und her, als sei dieser gewöhnliche Umschlag mit der maschinengeschriebenen Adresse aus der Geisterwelt erschienen. Der Brief war ihre Verbindung mit dem finsteren Gebäude vor ihr. Bald würde sie erfahren, was für eine Wahrheit hinter diesen Wänden auf sie wartete. Sie wusste nicht, ob sie all dem gewachsen war. Zu viele Fakten hatten sich vor ihr aufgetürmt wie ein Strohfeuer von Absurditäten, dasin Stichflammen aufgehen konnte, wenn noch mehr Öl ins Feuer gegossen werden würde.
    Überflüssigerweise las sie den Brief noch einmal durch – sie kannte den Inhalt ja fast auswendig –, aber sie war so erzogen worden, dass das unter den gegebenen Umständen das Richtige war. Sie saß vor dem »Ort ihrer Geburt« und fühlte sich wie eine Büßerin vor dem Hochaltar, und der Brief in ihren Händen war der unbestreitbare Beweis, dass sie in ihrem Leben schon einmal an diesem Ort gewesen war.
    Elwood House
River Road
Killoran
    Meine geliebte Lydia,
    ich hoffe inständig, dass diese Worte, wenn Du sie endlich zu lesen bekommst, Dich nicht allzu sehr verletzen werden, auch wenn ich weiß, dass Dich das, was ich zu offenbaren habe, wie ein schwerer Schock treffen wird. Ich werde in Frieden bei Deinem lieben Vater liegen, wenn Du diesen Brief bekommst, und ich schreibe ihn schweren Herzens. Bitte trauere nicht zu sehr um mich. Wenn ich gestorben bin, wirst Du endlich frei sein und kannst so leben, wie Du es Dir vorstellst. Also nimm es von der guten Seite und breite Deine Flügel aus. Dein Vater und ich haben immer nur Dein Bestes gewollt, bitte vergiss das nicht. Und wir haben uns gegenseitig versprochen, dass Du die wahren Umstände Deiner Geburt erst nach unserem Tod erfahren sollst.
    Geliebte Lydia, wir haben Dich am 5. Dezember 1934 adoptiert, als Du erst ein paar Wochen alt warst.
    Ihre Mutter würde nie erfahren, wie sehr sie diese Worte verletzt hatten. Lydia sah von dem Brief auf und versuchte, die unvermeidlichen Tränen zu stoppen. Das düstere Gebäude schien sich über sie lustig zu machen. Verzweifelt wischte sie sich die Tränen aus den Augen und drehte das Blatt um. Es gab keinen Trost und so las sie weiter. Das feuchte Taschentuch lag schon bereit.
    Bitte weine nicht zu sehr, wenn Du dies liest. Dein Vater und ich konnten keine Kinder bekommen und ich habe mir so sehr ein kleines Mädchen gewünscht. Du warst ein kleiner Engel, den man ausgesetzt hatte, und wir haben dich gerettet.
    Ach tatsächlich, dachte Lydia, die jetzt richtig ärgerlich war. Wie oft hatte man ihr erzählt, dass ihre Eltern sich nur aus einem einzigen Grund näher gekommen waren, nämlich um sie in die Welt zu setzen?
    Ich wollte kein Kind aus der Nähe adoptieren, deswegen sind wir nach Londonderry ins Waisenhaus der heiligen Agnes zu den Barmherzigen Schwestern gefahren. Ich glaube, heute ist es ein Altersheim für den Klerus. Ich war katholisch, bevor ich Deinen Vater geheiratet habe, und deswegen habe ich mich als katholisch ausgegeben und es nicht für eine schwere Täuschung der Nonnen gehalten. Denn Du musst wissen, liebste Lydia, wie sehr ich mich nach Dir gesehnt habe. Das musst Duverstehen. Was spielt es da schon für eine Rolle, welcher Religion wir angehören? Wir lieben und ehren doch alle ein und denselben Gott.
    Wie viele Lügen hatte ihre Mutter ihr denn noch erzählt? Es kam ihr so vor, als sei ihr ganzes Leben auf

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