Der übersehene Mann: Roman
ich Tiere, Sir.«
»Und was für Tiere hast du schon versorgt?«, fragte ihn die Frau lächelnd.
Da ließ der Junge vor Scham den Kopf sinken. »Keine, leider, aber im Kopf schon! Da habe ich Schafe und Kühe und Hühner versorgt.«
»Was für ein Blödsinn, Sechsundachtzig«, fuhr ihn Mutter Vincent an, bevor sie sich an das Paar wandte. »Sie müssen ihn entschuldigen. Er ist ziemlich einfach gestrickt, fürchte ich.«
»Oh, da bin ich aber anderer Ansicht, Schwester«, sagte Mrs McCloone. »Ich finde, seine Antwort zeigt, wie viel Vorstellungskraft er besitzt.«
Wie herrlich, wie beruhigend, wie wunderbar war die Stimme dieser schönen Frau. Sechsundachtzig war so dankbar, dass er den Kopf hob und der Frau ein »Dankeschön« zuflüsterte, der Frau, von der er sich so verzweifelt wünschte, dass sie seine Mutter werden würde.
Mutter Vincent warf ihm einen vernichtenden Blick zu, seine uncharakteristische Höflichkeit machte sie stutzig.
»In der Tat.« Sie behielt ihn im Auge. »Und Mr McCloone, was meinen Sie dazu?« Offensichtlich erwartete die Nonne eine nüchternere Antwort von dem Mann.
»Oh, ich stimme Alice zu. Diesem Jungen würde unsere Farm gefallen. Wir haben vier Schweine, zehn Schafe, acht Kühe, eine Katze und einen Hund. Wie findest du das, Sechsundachtzig? Meinst du, du kämst damit klar?«
Der Mann strahlte vor Stolz, als er sein Vieh aufzählte. Er sah längst nicht so gut aus wie die Frau, aber seine wachen braunen Augen und sein schmales Gesicht sandten echte Herzenswärme aus.
»Ich muss Sie dennoch warnen. Der Junge hat sich einige Vergehen zuschulden kommen lassen, seit er bei uns ist«, sagte die Nonne mürrisch. »Es wäre unehrlich von mir, wenn ich Ihnen den Eindruck vermitteln würde, er sei so etwas wie ein Heiliger.«
Sie öffnete den Folianten. Sechsundachtzig war überzeugt, dass jetzt alles verloren war. Er brachte es nicht über sich, das Paar anzusehen, sondern starrte mit Tränen in den Augen aus dem Fenster. Stille senkte sich auf sie herab, qualvoll wie angehaltener Atem. Er versuchte, das belastende Rascheln zu überhören, als die Nonne geschäftig in den Seiten blätterte.
Vom Flur her war Bartleys Stampfen zu hören. Hinter dem Fenster fielen feine Schneeflocken auf das trostlose Waisenhaus. Und drinnen überkam ihn eine Traurigkeit wie der Schnee: feucht, schwer, unausweichlich.
Eine dicke Träne rann ihm die Wange herab, als sich seine Welt verdunkelte. Er starrte auf seine abgearbeiteten Hände und seine schwarzen Füße und wartete geduldig darauf, dass all seine Sünden ans Tageslicht kamen.
Einmal mehr sah er sich nach der verbotenen Rübe im Sack greifen, spürte den reißenden Husten, der die Feierlichkeit der Morgenandacht gestört hatte, hörte den Porzellanteller auf dem Küchenboden der Fairleys zerschellen und wachte wieder im durchnässten Bett mit schmerzenden, blutverschmierten Gliedern auf. Er durchlebte die Schmerzenjedereinzelnen Strafe für jedes einzelne dieser Vergehen: die Ruten, die auf ihn niedergingen, die Gürtel, die ihn auspeitschten, die Hände, die ihn grob in dunkle Räume hinter verriegelte Türen schubsten.
Und dann durchbrach eine warme, freundliche Frauenstimme diese qualvollen Erinnerungen und warf ihm einen Rettungsanker zu.
»Oh, das ist wirklich nicht nötig, Schwester. Wir wollen gar nicht wissen, was der Junge auf dem Kerbholz hat. Die Vergangenheit ist vergangen, nicht wahr, und wir lassen uns alle mal was zuschulden kommen, vor allem wenn wir klein sind.«
Jedes einzelne dieser seidenweichen Worte wurde mit ruhiger Gewissheit vorgetragen. Er klammerte sich daran.
Bevor die Nonne antworten konnte, öffnete die Frau ihre Handtasche und kam mit einem weißen Taschentuch auf Sechsundachtzig zu, das mit silbernen und grünen Kleeblättern gesäumt war. An diese Kleeblätter würde er sich ein Leben lang erinnern.
»Aber, aber, nun wein doch nicht, mein Kleiner.« Als sie sich mit leicht raschelndem Kleid über ihn beugte, nahm er ihren Geruch wahr und sandte noch ein Stoßgebet zum Himmel: dass er für immer in der Nähe dieser überwältigenden Schönheit bleiben durfte.
Schnell trocknete er sich die Tränen und wollte ihr das Taschentuch zurückgeben.
»Vielen Dank!«
»Bitte behalt es, mein Kleiner.«
Und damit beugte sie sich noch etwas näher zu ihm herab und flüsterte ihm etwas zu, was nur für seine Ohren bestimmt war. Etwas, was er in seinem ganzen Leben nie vergessen sollte.
»Ich nehme es morgen
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