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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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zerschlagen wie Knochentrümmer auf einem gespenstischen Friedhof.
    Der Junge neben Sechsundachtzig stellte sich vor, dass die Frau im Büro der Nonne seine verlorene ältere Schwester war, über die er so oft sprach und die endlich gekommen war, um ihn mit nach Hause zu nehmen.
    Neunundachtzig, der bereits drinnen gewesen war, quälte sich mit der Gewissheit, dass er heute nicht der Glückliche sein würde. Sie hatten ihn nicht lange genug drinnen behalten und viel zu wenig Interesse an ihm bezeugt. Jetzt saß er da, kaute auf seiner Lippe und versuchte, den Flaschengeist wieder einzufangen, von dem er sich dummerweise die Erfüllung seiner Wünsche erhofft hatte.
    Sechsundachtzig wollte so sehr daran glauben, dass diese Leute gute Leute waren und ihre Wahl auf ihn fallen würde. Immer wenn er nervös war, wie jetzt, versuchte er sich zu beruhigen, indem er sich das Haus seiner Träume ausmalte. Aus Plakaten und zerfledderten Bilderbüchern, die er in Schwester Veronicas Klassenzimmer gesehen hatte, hatte er sich das Bild eines glücklichen Heims zusammengesetzt, eines, das ihm das Paar im Büro der Nonne vielleicht geben wollte.
    Er sah ein weiß gekalktes, reetgedecktes Haus am Ende eines gewundenen Pfades. Vor dem Haus lag eine Veranda mit einer grünen, halbhohen Tür und zu beiden Seiten Fenster mit roten Vorhängen. Aus einem schwarzen Schornstein an einer Seite des Daches wand sich Rauch in einen blauen Himmel. Um die Tür rankten sich rosa Rosen und aufderSchwelle lag ein schwarzer Hund – schwarz, damit er zum Schornstein passte.
    Jetzt war Sechsundachtzig gedanklich bei dem Teil des Bildes, das er am meisten liebte: bei den Tieren im Hof. Erst sah er drei orangerote Hennen mit roten Kämmen und gepunkteten Federn. Hinter dem Trog und der grün gestrichenen Pumpe ...
    Plötzlich wurde die Tür der Mutter Oberin geöffnet und seine Fantasie kam zu einem abrupten Ende. Vierundachtzig stand vor ihm und sagte, er sei jetzt an der Reihe. Bevor Sechsundachtzig reagieren konnte, hatte Bartley ihn schon an der Schulter gepackt und durch die geöffnete Tür geschleudert.
    »Hier ist Sechsundachtzig«, sagte Mutter Vincent zu dem Paar. Sie saßen zur Linken ihres Schreibtischs. Er fand, dass sie in dem spartanischen Zimmer vollkommen fehl am Platz wirkten.
    »Setz dich, Junge.«
    Er kletterte auf den Holzstuhl, auf dem er schon am Vortag gesessen hatte. Er war so hoch, dass seine Füße kaum den Boden berührten. Er versuchte, die Fremden nicht anzusehen, aber er hatte sofort gespürt, dass sie nicht wie die Fairleys waren.
    »Wie geht’s dir denn?«
    Der Mann hatte ihn zuerst angesprochen. Sechsundachtzig war gezwungen, ihn anzusehen.
    »Sehr gut, vielen Dank, Sir.«
    Der Mann und die Frau lächelten. Sie lächelten vorbehaltlos und ehrlich, und das erstaunte ihn. Die einzige Erwachsene, die ihn je angelächelt hatte, war Mrs Doyle am Rande des Kartoffelackers gewesen. Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Deswegen konzentrierte er sich auf die wirbelnden Schneeflocken hinter dem Fenster, die jetzt zwischen der schwarzen Schulter der Nonne und der geblümten Schulter der Frau niedergingen – zwischen der Dunkelheit und dem Licht.
    »Dies sind Mr und Mrs Michael McCloone, Sechsundachtzig. Wenn sie dich mögen, nehmen sie dich an Sohnes Stelle an. Was sagst du dazu?«
    Trotz der einschüchternden Gegenwart von Mutter Vincent nahm er allen Mut zusammen und sah von der Frau zu dem Mann, dann wieder zur Frau. Er traute seinen Augen kaum, er meinte, sein Verstand halte ihn zum Narren. Denn er glaubte, seine Mutter zu sehen. Sie trug dasselbe geblümte Kleid, das er sich immer vorgestellt hatte: blaue Vergissmeinnicht auf weißem Grund. Ihr langes gewelltes Haar umspielte ein schönes Gesicht mit blauen Augen, einem lächelnden Mund und ebenmäßigen weißen Zähnen. Sie trug Schuhe mit hohen Absätzen und in ihren spitzenbesetzten Handschuhen hielt sie eine passende Handtasche.
    »Ich wäre unheimlich gerne ihr Sohn, Schwester!« Er sah die Frau flehentlich an und fragte sich dabei, wie er seine Bereitschaft und Ernsthaftigkeit am besten ausdrücken konnte. Über das kalte Zimmer hinweg sah er ihr in die Augen und sprach ein stummes Stoßgebet: Bitte, lieber Gott, lass sie mich von hier wegbringen!
    »Welche Farmarbeiten kannst du denn besonders gut, Junge?«, fragte ihn der Mann ernst, aber freundlich.
    »Ich mag alle Arbeiten, Sir. Ich ernte gerne Kartoffeln und binde gerne Heu, aber am allerliebsten mag

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