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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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hatte sie um weitere Namen angebettelt. Also hatte Mick Kevin Barry hinzugefügt und Alice Michael, nach ihrem Ehemann und ihrem Vater. Jetzt war er keine Nummer mehr. Und niemand würde ihn je wieder Sechsundachtzig nennen.
    Er wusste auch noch, wie er die Silben seiner neuen Namen ein ums andere Mal wiederholt hatte, wie er sich jede einzelne kostbare Perleseines neuen Selbst auf der Zunge hatte zergehen lassen und wie befriedigend seine neue Identität gewesen war. Bis dahin war er ein Niemand gewesen. Mick und Alice hatten ihm Lebenswillen geschenkt, hatten aus ihm einen echten Menschen gemacht.
    Die Erinnerungen an den ersten Tag bei seinen neuen Eltern waren nie verblasst. Er konnte sich nicht sattsehen an dem Reichtum der neuen Welt, in die er nun eingetreten war. Er bekam ein Schlafzimmer nur für sich allein, ganz in Blau und Weiß, auf seinen Vorhängen prangten Glocken blumen und sein Bett war mit richtigen Laken bezogen. Die Stille der Nacht war ungewohnt für ihn; kein Wimmern und Weinen seiner Schlafgenossen mehr und morgens keine schrille Triangel, keine strafenden Hände, keine Strafe mit dem Gürtel, keine Nonne, die inspizierte, ob er das Bett genässt hatte.
    Alice hatte ihm neue Kleider gegeben: Hosen und Pullover, die ihm passten, Strümpfe bis zu den Knien und ein Paar brandneuer Schuhe. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er sich je an das Gefühl gewöhnen würde, in ihnen zu laufen. All die Jahre hatte er nur Gras, Kies, Matsch und den kalten Steinboden unter seinen bloßen Fußsohlen gespürt.
    Sie hatten sich in diesen ersten außergewöhnlichen Tagen an einen Tisch mit Spitzendeckchen gesetzt und ihm Essen serviert, an das er nicht einmal im Traum gedacht hätte: Fleischklößchen in Sauce, Eier, Würstchen, Hühnchen und frisches Gemüse.
    Zehn lange Jahre hatte er Hunger gehabt. Alles, was es im Waisenhaus gegeben hatte, war klumpiger Haferschleim gewesen, hartes Brot und Kohlwasser mit Kartoffeln, aus denen die Maden notdürftig entfernt worden waren. Und im Herbst die Holzäpfel aus dem Obstgarten, die ihnen die Nonnen zuwarfen, und von denen ihnen allen übel wurde.
    Er erinnerte sich daran, wie Mick ihm beigebracht hatte, mit Messer und Gabel zu essen, und wie seine ungelenken kleinen Finger rebelliert hatten und die komischen Gerätschaften nicht festhalten konnten, denn seine Hände waren nur an den Löffel gewöhnt.
    Aber der Höhepunkt des ersten Tages – den er in seinem erwachsenen Leben immer wieder aufleben zu lassen versuchte – war das Dessert auseiner Cremeschnitte und Schokoladenkeksen, die ihm Alice auf einem Teller mit einer blauen Weide nach dem Essen zugeschoben hatte. Nie würde er diesen göttlichen Geschmack vergessen, nie vergessen, wie ihm die Schokolade auf der Zunge zergangen war, wie der süße Geschmack sich in seinem Mund ausgebreitet hatte.
    Was für eine Freude! Er war zehn Jahre alt und sein Leben begann.
    Jamie rutschte unbehaglich auf dem zerfledderten Sessel hin und her und begutachtete die Trümmer seines Lebens. Jetzt war es halb zwölf, er hatte nur noch siebeneinhalb Stunden vor sich. Er trank den ersten Tee des Tages, rauchte die erste Zigarette. Die Sonne stand vor dem Fenster, der Hund lief im Hof umher. Dieser Tag würde mit seiner Befreiung enden. Er war froh, dass es bald vorbei sein würde. Er war es leid, einen taubstummen Gott zu befragen. Leid, sich mit Dingen zu beschäftigen, die er nicht haben konnte. Er war die immergleichen endlosen Morgen leid, die die immergleichen endlosen Tage einläuteten. Er wusste jetzt, dass das Leben nur für die Furchtlosen und Gutaussehenden gemacht war.
    Er hatte alles genau geplant. Hinter einem Stapel im Heuschuppen hatte er eine kleine Flasche Whiskey und eine Tüte mit einem Schokoladenriegel und einer Cremeschnitte versteckt. Sie spiegelten sein erstes freudiges Festessen auf der Farm und sollten das Letzte sein, was er aß. Doch wo war bloß der Teller mit der blauen Weide geblieben, auf dem Alice ihm vor all diesen Jahren die himmlischen Süßigkeiten serviert hatte? Ein wertvolles Familienerbstück, das ihrer Großmutter gehört hatte. Wäre es nicht angemessen, wenn er heute von ihm essen würde? Zu Alices Ehren und als letzten Abschiedsgruß?
    Er trank den Tee aus und ging zum Glasschrank, um nachzusehen. Er hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen, aber er hatte auch nie einen Grund gehabt, nach ihm zu suchen. Er zog einen Stapel Teller hervor und ging sie durch, aber der mit der blauen

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