Hollys Weihnachtszauber
Prolog
Der Geist der vergangenen Weihnacht
Obgleich der Dezember gerade erst angefangen hatte, war die Krankenhausstation mit einem kleinen Tannenbaum und Wandbehang aus Plastik geschmückt: ein dicker Weihnachtsmann mit leuchtend roten Pausbacken und dunklen Mandelaugen. Er hielt Rudolf, dem überaus rotnasigen Rentier, etwas hin, das wie eine Stange Dynamit aussah, aber wahrscheinlich braucht man auch Tatkraft wie Dynamit, um in einer einzigen Nacht sämtliche Geschenke zu verteilen.
In den letzten Jahren hatte meine Abwehrstrategie darin bestanden, Weihnachten zu ignorieren und vor unerträglich schmerzhaften Erinnerungen Tür und Riegel zu schließen; nun jedoch, da ich Tag für Tag an dem Bett saß, in dem Oma dahinschwand wie Schnee im Sommer, gab es offenbar kein Entkommen.
Oma, die mich aufgezogen hatte, hätte all dieses Weihnachtsbrimborium nicht gutgeheißen. Sie war nicht nur als Rätselhafte Baptistin geboren, sondern hatte auch einen Pfarrer dieser ganz besonders asketischen (und inzwischen so gut wie ausgestorbenen) Glaubensrichtung geheiratet. Sie feierten Weihnachten nicht in der Art wie alle anderen – mit Geschenken, Schlemmerei und Überfluss –, sodass ich meine Schulfreunde als Kind immer heimlich beneidet hatte.
Dann aber hatte ich geheiratet, und von da an kannte meine Begeisterung für Weihnachten keine Grenzen mehr. Alan feuerte mich dabei noch an – er war im tiefsten Inneren immer ein Kind geblieben, wahrscheinlich war er deshalb auch so ein großartiger Grundschullehrer. Jedenfalls liebte er das ganze Tamtam, den Überfluss, die Schlemmerei und alles.
So buk und glasierte ich Lebkuchensterne, um sie zusammen mit lustigen rot-weiß gestreiften Zuckerstangen, kleinen, in Folie verpackten Knallbonbons und blinkenden Lichterketten an den Baum zu hängen, und der war grundsätzlich der größte, den wir vom Gartencenter nach Hause schleppen konnten. Gemeinsam bastelten wir meterlange Papierketten, um die Zimmerdecken zu dekorieren, hängten Mistelzweige auf (wenngleich wir zum Küssen nie einen besonderen Anlass brauchten) und füllten uns gegenseitig Weihnachtsstrümpfe mit originellen Überraschungen.
Nach dem ersten Jahr beschlossen wir, auf den traditionellen Festtags-Truthahn mit allen Schikanen zu Gunsten gebratener Ente mit hausgemachter Sauerkirschsoße zu verzichten, die mein Paradegericht werden sollte. (Ich war damals stellvertretende Küchenchefin in einem hiesigen Restaurant.) Wir entwickelten unsere eigenen Traditionen, vermischten Altes mit Neuem, wie wohl die meisten Familien …
Und wir waren drauf und dran, eine Familie zu werden: standen im Begriff, in einen kleinen Ort dicht hinter dem Stadtrand von Merchester zu ziehen, eine ideale ländliche Umgebung für die zwei Kinder (wenn es nach Alan gegangen wäre, vielleicht auch drei), die in wohl dosierten Abständen kommen sollten …
An dieser kritischen Kreuzung meines Gedankengangs schepperte irgendwo hinter den geblümten Vorhängen, die das Bett umschlossen, ein ratternder Rollwagen und brachte mich ruckartig ins Hier und Jetzt zurück: Sogar eine blecherne Version des Liedes »Die Zwölf Weihnachtstage«, die wie ein adventlicher Pesthauch aus den Wänden sickerte, drang leise an meine Ohren.
Vielleicht hörte auch Oma das Lied, denn plötzlich riss sie ihre klaren hellgrauen Augen, die meinen so ähnlich waren, mit einem Ausdruck freudiger Überraschung auf, der weder meiner Gegenwart noch dem Töpfchen hausgemachter Eiercreme galt, das ich mitgebracht hatte, um ihren Appetit zu wecken – die mit Muskatnuss besprenkelte Oberfläche leicht gebräunt, genau wie sie es mochte.
»Ned? Ned Martland?«, flüsterte sie, den Blick auf jemanden gerichtet, den außer ihr selbst niemand sehen konnte.
Nie hatten ihre Augen derart geleuchtet, nie hatte ich sie derart lebendig gesehen wie in jenem Moment, eine Ironie des Schicksals, denn das waren ihre letzten Worte – und diese Worte selbst stellten mich vor ein Rätsel, denn der Name meines Großvaters war Joseph Bowman!
Wer zum Teufel also war Ned Martland? Sofern es Martland geheißen hatte, versteht sich, und nicht Cartland, Hartland oder so ähnlich. Aber nein, ich war ziemlich sicher, der Name lautete Martland – und er hatte ihr offenbar irgendwann einmal sehr viel bedeutet. Das war doch höchst erstaunlich: Hatte meine ernste und überaus reservierte Großmutter, die nicht nur zugeknöpft war, sondern undurchdringlich verschlossen wie ein fest
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