Der Umweg nach Santiago
nicht wie die alte Muschel aussieht, die auf allen anderen Wegzeichen zu sehen ist, und schließlich die Schilder, die anzeigen, wo noch ein Stück des ursprünglichen Weges vorhanden ist, meist nicht mehr als ein Pfad. Und plötzlich passiert es, man will aus dem Auto heraus,will zu Fuß weiter, man hat es die ganze Zeit falsch gemacht, man will hinter den anderen, den echten Pilgern doch nicht zurückstehen, die die ganze Strecke zu Fuß zurückgelegt haben, den einzigen, die wirklich wissen, was das bedeutet. »Irgendwann mache ich es auch«, sagt man sich und hofft, daß es wahr wird, und um zu sehen, wie es ist, läßt man sein Auto für einen Tag stehen und marschiert los. Ohne Stab und ohne Gepäck, ohne Muschel, weil man kein Recht darauf hat, aber man geht, und weil man geht, ist man ein anderer geworden. Jetzt erst wird einem das Ausmaß des Unterfangens klar, plötzlich wird man auf ein Maß zurückgestutzt, das nur noch mit einem selbst zu tun hat, mit den eigenen Gedanken, mit denen man die Gedanken der anderen, der Pilger von einst, nachzuvollziehen versucht. Weil die Schilder nicht überall stehen, weiß man oft nicht mehr, wo man ist, man hat nur noch den Takt der eigenen Füße. Jetzt ist man es selbst, der die Stunden zählt, der die Trägheit der Landschaft ringsum sieht, während man über eine staubige Ebene läuft, nichts vor sich als die Form eines Hauses in der Ferne, oder später, an einem anderen Tag, bei einem anderen Mal, einem Fluß folgt oder durch einen Wald geht, wo das Land wieder wilder wird und sich zu wellen beginnt. Die Bilder all jener Kirchen haben sich längst zu einem wundersamen langen Band vermischt, das von Haarlem oder Paris oder Cluny aus dem Auf und Ab des Landes folgt, jetzt sind es andere Stimmen, die sprechen, Elstern und Eulen, andere Geräusche, die Schritte eines anderen, wildes Wasser an einer Brücke, unsichtbare abendliche Tiere, eine Stimme, die in einem Haus singt.
Man sieht, wie der Tag sich langsam verdunkelt, aber man hat selbst kein Licht, das man anzünden könnte, und so kann man darüber nachdenken, was sie einst, in jener anderen Zeit, gedacht und gefühlt haben, wenn sie zurückgefallen waren und allein durch die Dunkelheit liefen. Die galicische Landschaft ist eine Landschaft der Märchen und Fabeln, Hexen und Zauberer, unerwarteter Erscheinungen und verzauberter Wälder, herumirrender Geister und keltischer Nebel, selbst der, der nur ein paarStunden bei Dämmerung und hereinbrechender Nacht hier entlangwandert, fühlt sich in einem Trugbild gefangen, der Weg ist kein Weg, die Büsche sind Pferde, die Stimme, die ich höre, kommt aus einer anderen Welt.
Kalt wird es auch, als ich oben auf dem Cebreiro angelangt bin, schneit es, ich stehe in einer jener prähistorischen Steinhütten, pallozas , niedrig, dunkel, der Boden aus Erde, Möbel, die noch fast Bäume sind, geschwärzte Kochtöpfe, die über einem Feuer in der Mitte der Hütte gehangen haben, noch immer der Geruch von Rauch, das Dach spitz und aus geflochtenem Schilf, wie die Hütten der Dogon in Mali. Vor zwanzig Jahren wohnten hier noch Menschen, neun dieser Hütten sind noch da, aber kein Mensch mehr, um ein Feuer zu entfachen, und doch kam hier einst ganz Europa vorbei, weil auf diesem Berg ein großes Wunder geschehen war: ein gläubiger Bauer, ein ungläubiger Mönch, echtes Fleisch, echtes Blut, den Kelch, der es einst faßte, gibt es noch, selbst die Katholischen Könige kamen, um ihn zu sehen. Auch hier besaßen die Mönche von Cluny ein Hospiz, erst im vorigen Jahrhundert sind sie gegangen, still, wie jemand, der tausend Jahre irgendwo war und nun die letzte Seite eines sehr dicken Buches umblättert und es für immer schließt, vorbei die Geschichte von Macht und Einfluß, Frömmigkeit und Politik, die die Geschichte Europas jahrhundertelang beherrscht hat. Es steht noch, dieses Hospiz, es scheint, als hätte der Berg selbst es gebaut, ein Leuchten steckt in dem rohen, kalten Stein, die Kirche aus dem neunten Jahrhundert daneben ist ebenso abweisend, noch einmal mußte es hart und mühselig werden, bevor das Ziel in Sicht kam. Hier ist die Wasserscheide zwischen dem Atlantischen Ozean und dem Kantabrischen Meer, es ist der höchste Punkt des umringenden Gebirges, braun und düster weicht das Land nach Westen.
Der Codex Calixtinus schickt mich über Hasenfelder (Campus Leporarius), die jetzt Leboreiro heißen, die Brücke in dem mittelalterlichen Dorf ist nur zu Fuß zu passieren.
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