Der Umweg nach Santiago
lassen sich nicht so einfach erobern. Je weiter ich komme, desto vereister ist die Straße, durch den Wechsel von Sonne und Schatten ist der Schnee mal geschmolzen, mal über froren, das Auto gerät ins Schlittern, quergestellt rutsche ich die Steigungen hinunter, mein Instinkt sagt mir, daß ich zurückfahren sollte, aber mein Dickkopf sagt nein, und als ich endlich vor dem Kloster stehe, ist es »für den Winter« geschlossen; von unten starre ich auf dieselbe Felswand, auf ein paar Kapitelle, die ich von dort sehen kann. Rings um mich ein Wald von Kiefern, ihr Rauschen lacht mich aus, aber als ich zurückzufahren versuche, bleibe ich schon in der ersten Kurve im Schnee stecken und rutsche dann langsam rückwärts, die Steilstrecke hinunter, bis ich quer zur Straße zum Stehen komme. Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig als zu warten, in der Stille muß ich das Nahen jedes Autos hören, und dann höre ich es, erst noch aus großer Entfernung, dann lauter und wieder ersterbend, das Geräusch eines anderen Autos, es sind die Kurven, die das Geräusch ersticken und wieder freigeben, bis es sein eigenes Echo zu werden scheint. Doch es ist anders, als ich dachte, denn es sind zwei Autos, die sich aus verschiedenen Richtungen nähern und auf den dummen Flachlandbewohner stoßen, der glaubte, hier ohne Schneeketten fahren zu können. Sie haben welche und sie retten den Fremden mit einer Höflichkeit, die nicht mehr zeitgemäß scheint. Sie kennen einander sowenig, wie sie mich kennen, sie kommen, nach ihren Nummernschildern zu urteilen, aus verschiedenen Gegenden, einer hat ein zusätzliches Paar Schneeketten dabei, gemeinsam legen sie sie um meine Reifen, ich fahre den Wagen aus der Gefahrenzone und gehe dann zurück, wo die anderen warten. Ein gesegneterZufall will es, daß ich zwei Exemplare der spanischen Ausgabe meines Buches In den niederländischen Bergen bei mir habe, und ich sehe geradezu, wie sie denken, daß es in den Niederlanden doch keine Berge gibt, aber es ist zu kompliziert, das zu erklären, und außerdem, was kann man schon von einem Mann erwarten, der im Februar in den Bergen ohne Schneeketten fährt?
Ich weiß, daß ich weiter nach Westen, Richtung Navarra, fahren muß, auf Santiago zu, ich weiß, woran ich vorbeikommen werde und was ich, wenn ich dort je ankommen will, links (oder rechts) liegen lassen muß. Ich muß streng sein, ich bräuchte ein Jahr, um all das aufzusuchen, wo ich schon einmal war, ich sündige lediglich ab und an; ganz kurz, als wollte ich mich nur vergewissern, daß alles noch da ist, stehe ich in der geheimnisvollen niedrigen Krypta des Klosters Leyre zwischen den atavistischen klobigen, kalkfarbenen Säulen mit den westgotischen Motiven. Dummheit, das alles, hierfür muß man sich Zeit nehmen, genauso wie für den Zauber der Klosterkirche, die sich durch ein perspektivisches Spiel dreier aufeinander folgender hoher Bögen zur Apsis hin reckt und so mit sich selbst davonzufliegen scheint. Ein Parallelleben müßte ich haben, eine bestimmte Menge Zeit, um gleichzeitig zu dieser Reise jene früheren Reisen noch einmal machen zu können, nach Silos, nach León, nach Oviedo, jetzt muß ich diese Zeit aus meiner Erinnerung destillieren, doch sogar wenn sie die Bilder liefert, genügt es mir nicht, es kommt auf die Anwesenheit, die Berührung, die Hand an, die über den Stein streicht, das Unmögliche, denn was man dann will, ist nicht ein anderes Leben, sondern ein längeres, eines, in dem man sich fortwährend in denselben Kreisen von Abschied und Wiedersehen dreht, bis man eines Tages so gesättigt und müde ist, daß man sich in einer dieser Kirchen in eine Nische legt und in einen steinernen Traum fällt.
Doch so weit ist es noch nicht. Die parallele Zeit gehört nicht zu meiner Ausrüstung, ich habe nur einen sterblichen Körper, der nicht überall gleichzeitig sein kann und der mich jetzt wiedermit hinausnimmt und über den Embalse de Yesa blickt, einen großen, künstlich gestauten See, in dessen totenstillem, stahlblauem Wasser sich die dunklen Formen der Hügel ringsum spiegeln. Gefährlich war es früher in diesen Gegenden, Aymery Picaud, ein Mönch aus Poitiers und Mitverfasser des Codex Calixtinus , des ersten Pilgerführers, konnte nicht genug warnen vor den bestialischen Bewohnern Navarras. Im übrigen warnte er vor allem und jedem, außer vor den Bewohnern seiner eigenen Heimat. Er selbst hatte die Pilgerreise ebenfalls unternommen und wußte also, wovon er
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