Schwingen des Vergessens
Teil 1 ~*~ Mystische Veränderungen
Liebes Tagebuch,
es ist schwer zu sagen, wie lange ich schon nicht mehr gesehen habe, dass Mum und Dad sich geküsst haben. Wahrscheinlich ist es in den letzten Jahren nicht geschehen, dafür heute umso inniger. Als wäre etwas geschehen, das sie so glücklich gemacht hat, so dass sie den Streit und alles, was vorher geschehen war, einfach vergessen haben. Naja, schön wär’s, findest du nicht? Vielleicht hören sie jetzt endlich auf zu streiten und widmen sich mal anderen Problemen. Zum Beispiel: mir! Sie könnten sich mal meinem Leben widmen, so wie ich Tag für Tag lebe, ohne wirklich einen Sinn zu sehen. Wahrscheinlich haben sie nicht einmal gemerkt, wie ich mich immer mehr in mein Zimmer verkrieche und Dinge tue, die für die Beiden unvorstellbar wären. Die gefährlich und unerlaubt sind, in ihren Augen zumindest. Vielleicht ist es für mich nur der einzige Ausweg, wer weiß. Auf jeden Fall tut es gut, einmal frei zu sein… Aber was rede ich da eigentlich? Was würde es sie interessieren? Nicht das Geringste. Das habe ich überhaupt in letzter Zeit gemerkt. Meine Mutter, die mir eigentlich am Meisten hätte helfen sollen, ist in eine regelrechte Starre verfallen, in der sie nur noch aß, arbeitete und trank. Alles was für sie, ihrer Meinung nach, notwendig war. Ich war das dann wohl doch nicht. Mein Vater, naja, wie hätte er mir helfen können? Er war schließlich kein Zauberer, doch er hätte schon Zauber bewirken können, wenn er nur da gewesen wäre. Wenn er sich nicht in seine Arbeit verkrochen hätte und mich völlig hinter sich gelassen hätte. Natürlich wäre es beinahe gleich geblieben, wie es sonst immer war, aber wenigstens hätte ich die Illusion gehabt, dass sich jemand um mich kümmert…
Anscheinend haben sie auch vergessen, was heute vor genau 4 Jahren geschehen ist. Ich hab keine Lust, es hier nieder zu schreiben, es bringt mir sowieso nichts, mir immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, wie es wäre, wenn ich mich an mein Leben erinnern könnte. Wenn ich wüsste, wie es in der Volksschule war. Welche Freunde ich dort hatte oder wie ich mich damals gefühlt habe, als ich noch normal war. So wie die anderen. Ein unschuldiges Kind mit sinnlosen Träumen. Träume, die nie wahr werden könnten. Vielleicht hab ich mir so wie alle anderen gewünscht, fliegen oder zaubern zu können. Es waren sinnlose Wünsche, genauso wie den einzigen Wunsch, den ich jetzt, nach vier Jahren immer noch habe. Der genauso unmöglich ist, laut den Ärzten jedenfalls. Doch was die Ärzte sagen, ist mir egal. Ich glaube daran, dass mein Wunsch irgendwann in Erfüllung geht. Der Wunsch, mich irgendwann wieder an die verlorenen 12 Jahre, die alle im Schatten liegen, zu erinnern…
Nachdenklich klappte Amelie das Tagebuch zu und beförderte es mit einem Wurf in ihren Kasten zurück, für heute war es genug. Ein Seufzen drang aus ihrem Mund, das einzige Geräusch im Raum. Dann noch das stete Blubbern von ihrem riesigen Aquarium, das den größten Teil ihres relativ großen Zimmers einnahm. Dort drinnen, in dem glasklaren Wasser schwammen einige Fische, manche größer, andere winzig klein. Sie selbst saß in einer der Nischen, die sie sich gebaut hatte. Ein riesiger Kasten stand an der Wand, dort, wo andere „normale“ Jugendliche große, einladende Fenster haben. Das Mädchen allerdings bewahrte in dem Kasten nicht etwa Kleidung, Bilder oder sonstiges Zeug auf, sondern sich selbst. In 2 Metern Höhe befand sich ein Loch, das sie verwendete, um sich auszuruhen. Nachdenklich lehnte sie ihren Kopf an das violett gestrichene, glatte Holz und stieß erneut einen Seufzer aus. Genau 4 Jahre war es her, es kam ihr viel länger vor. Die ganze Zeit, in der sie sich an nichts mehr erinnerte, in der sie vergeblich versucht hatte, wenigstens ein paar Fetzen der unerreichbaren Erinnerungen zu finden. Doch da war nichts! Genauso wie die Ärzte sagten, war es allerdings auch nicht und würde es nie sein. Kopfschüttelnd drängte Amelie die sinnlosen Gedanken aus ihrem leeren Gedächtnis und schloss eine Zeit lang die Augen. Mit den Fingern fuhr sie kurz über die Striche der Zeichnung, die sie am vorigen Tag begonnen hatte und die immer noch hier oben lag. Das raue Papier fühlte sich beinahe weich unter ihren Fingern an, die Zeichnung selbst war es allerdings nicht.
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