Der Umweg
wurde sie auch. Gestern abend, während sie sich selbst betrachtete, rauchend, hatte sich ihr Gesicht auf der Fensterscheibe in ein fremdes verwandelt, kein Spiegelbild mehr, sondern ein Spanner. Es war November, im Dezember würden die Tage noch kürzer sein. Vorhänge hatte sie auf dem Blatt Papier notiert, das vor ihr auf dem Tisch lag. Es war das erste Wort, das sie schrieb. Sie war ins Schlafzimmer zurückgegangen, hatte das Schiebefenster geschlossen und noch eine Zeitlang die unverhängte Scheibe angestarrt, ihr Herz schlug, als wäre sie ein paarmal die Treppe hinunter- und wieder hochgerannt.
Als sie aufwachte, begriff sie erst nicht, was an ihren Füßen geschah, dachte an Wind und den Stechginster. Es war nichts Hartes oder Scharfes, was ihre Fußsohlen berührte. Ganz vorsichtig hob sie den Kopf. Zuerst sah sie einen weißen Streifen, etwas, das durch die schwarzen Flecken daneben zum Streifen wurde, sofort fielen ihr die Köpfe der schwarzen Schafe ein. Dunkle, kleine Augen schauten zwischen ihren Füßen aufwärts, der Dachs starrte genau in ihren Schoß. Ihre Nackenmuskeln begannen zu zittern, Haare kitzelten ihre Stirn. Das Tier blickte sie an, sie fragte sich, ob es sie wirklich sah, ob ein Dachs Augen als Augen erkennt. Er blieb ebenso reglos wie sie, aber sie konnte nicht mehr lange durchhalten, die Wirbel in ihrem gekrümmten Nacken schmerzten durch den Druck auf den Stein. Dann kroch der Dachs langsam aufwärts, zwischen ihren Waden und Knien hindurch. Er hob und drehte den Kopf, schnaubte, die Nase schief, den Blick geradeaus. Sie richtete sich blitzschnell auf und preßte beide Hände in den Schoß. Der Dachs erschrak so heftig, daß er hochsprang und sich im Sprung halb umdrehte, von ihr weg. Er landete auf ihrem linken Bein, der Fuß war ihm bei der Flucht im Weg. Er biß sie in den Spann. Sie schaffte es, einen Ast vom Boden aufzuheben und den Dachs damit zu schlagen. So hart, daß der Ast auf seinem Rücken zerbrach, mit einem trockenen Knacken, das sie trotz ihres Schrecks befürchten ließ, sie könne ihm das Rückgrat gebrochen haben. Er knurrte und krümmte sich, bevor er humpelnd unter einem Stechginsterstrauch verschwand. Ein paar kleine Vögel flogen auf. Dann wurde es sehr still, Blut tropfte von ihrem Fuß auf den Stein, sie spürte nur einen leichten Schmerz und dachte: Laß es bluten. Sie lag wieder auf dem Rücken, der Stein gab jetzt keine Wärme mehr ab. Eine Hand ließ sie in ihrem Schoß liegen, anscheinend meldete ihr Körper sich zurück. Merkwürdig, daß sie das gestern abend nicht begriffen hatte. Seltsam war auch, daß ein Tier, von dem sie angegriffen wurde, ganz selbstverständlich ein »Er« war.
Weil sie keinen Verbandskasten hatte, mußte sie ein altes T-Shirt zerschneiden. Sie ließ heißes Wasser in die Wanne laufen, stellte den Fuß hinein und wartete, bis die Haut an den Zehen schrumpelig wurde. Anschließend wickelte sie einen Streifen Stoff um den Fuß und verknotete die Enden. Später, auf der Chaiselongue, zog sie The Wind in the Willows aus dem kleinen Bücherstapel auf dem Tisch und ließ sich daran erinnern, wie mürrisch und eigenbrötlerisch ein Dachs sein kann, ein Tier, das simply hates society . Am Abend begann der Fuß zu pochen.
10
Ihr Handy hatte sie vor einigen Wochen einfach in ihrer Kabine liegenlassen, als die Fähre morgens wunderbar pünktlich in Hull ankam. Jetzt fiel ihr nur eine Möglichkeit ein: zur Tourist Information in Caernarfon zu fahren und dort nach einem Arzt zu fragen. Das Autofahren war mühsam, der Fuß geschwollen, er paßte in keinen Schuh, und weil sich auch das Anziehen einer Hose als unmöglich erwiesen hatte, trug sie einen Rock. Wenn sie die Kupplung kommen ließ, fühlte sich das Pedal unter ihrer Fußsohle sehr hart an. Hart und rauh. Feine Regenschleier zogen an der Windschutzscheibe vorüber. Sie dachte an den Ofen im Wohnzimmer, überlegte, ob sie ihn nicht hätte ausmachen sollen. Und hatte Angst, daß es in Caernarfon vielleicht keinen Hausarzt mehr gab, daß auch auf seiner Scheibe FOR SALE stand. Dann würden hilfsbereite Touristik-Damen sie nach Bangor weiterschicken.
»Urlaub?« fragte der Arzt.
»Nein, ich wohne hier«, sagte sie.
»Deutsche?«
»Niederländerin.«
»Was führt dich zu mir?« Der Hausarzt war ein dünner Mann mit gelbem Haar. Er rauchte in seinem Sprechzimmer, als wäre das selbstverständlich.
»Darf ich auch rauchen?« fragte sie.
»Natürlich. An irgend etwas muß man ja
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