Der unersättliche Spinnenmann
rede mir ein: ›Alles ist gut, Kleiner, alles ist gut.‹ Aber ein paar Neuronen sind hellwach und schicken ein paar Gedankenblitze: ›Alles ist schlecht, Kleiner, alles ist schlecht.‹ Ich frage Julia und die Nachbarin, ob sie Kaffee wollen. »Ja, sicher doch«, sagt meine reizende kleine Frau. Ich bringe ihnen die Tassen und gehe schnell in die Küche zurück. Die Alte hat mit dem Wirbelsturm und ihrer Angst aufgehört. Jetzt macht sie die Nachbarn fertig. Alle sind unmoralisch, unmanierlich, Nutten, Schwule, Besoffene, Konterrevolutionäre, Lesben, Betrüger, Diebe. Alle sind eine Katastrophe. Außer ihr. Sie redet nie über ihr eigenes Leben. Dreißig Jahre lang hat sie als Offizier beim Geheimdienst gearbeitet. Deshalb ist ihr Leben ein Geheimnis. Selbstverständlich. Jetzt ist sie schon seit zehn Jahren pensioniert. Ihre Tochter und ihre Enkelkinder haben sie total im Stich gelassen, als gäbe es sie gar nicht. Ich kann die autoritäre Art nicht leiden, mit der sie die Leute verurteilt. Einmal hat sie mir ganz stolz erzählt: »Meine Untergebenen hatten Angst vor mir. Bei mir mussten sie stramm stehen wie ein Segel. Und mein Mann auch. Den hielt ich ganz kurz. Mir macht keiner was vor.« Ich verstehe nicht, wie Julia so viel mit ihr reden kann. Ich schaue aus dem Fenster, um mir die Zeit zu vertreiben. Ich glaube, ich bin ein bisschen überspannt. Keine Ahnung, warum. Am liebsten würde ich wegrennen und auf einen Zug eine Flasche Rum austrinken. Eine breitarschige Schwarze vögeln wie Martica Sugnol und ihr dabei ein paar überziehen, eine Zigarre rauchen, vom Malecón aus ins Meer rausschwimmen, bis mich die Haie fressen. Verdammt noch mal, ich ersticke hier drinnen! Ich muss jemanden verprügeln, abstechen, irgendeinem Arschloch vier Kugeln in den Kopf jagen, arrrghhü!
Mit zwanzig dachte ich, das Leben sei endlos und unerschöpflich und man könne alles bekommen, über alle Grenzen hinaus. Heute, dreißig Jahre später, begreife ich endlich, wie es wirklich ist: Man muss sehr viel Energie auf einen einzigen Punkt konzentrieren, wie einen Laserstrahl. Und das schaffen nur sehr wenige. Jeder Tag ist wie dafür geschaffen, einen abzulenken. Bis man sich verliert und nicht mal mehr weiß, wo man ist und weshalb man dorthin gekommen ist und was genau war.
Schnell lief ich die Treppe runter, ging zum Rumladen an der Lagunas-Straße und kaufte eine Flasche. Als ich zurück am Haus war, traf ich im Eingang Gaspar, einen alten Freund, Fotograf von Beruf. Hervorragend. Ein klasse Typ, was seine Arbeit angeht. Er ist sehr dick und wie ein Ami gekleidet. Wir begrüßen uns:
»Gaspar! Was machst du denn hier?!«
»Mann, gut, dass ich dich treffe. Ich wollte dich besuchen, aber diese Treppe hochsteigen ist keine Kleinigkeit.«
»Ich laufe hoch und runter, ohne auch nur drüber nachzudenken. Sind doch nur acht Stockwerke, hahaha. Du bist einfach zu dick geworden, Gaspar.«
»Das gute Leben, Kumpel. Du bist so schlank wie eh und je.«
Wir stiegen die Treppen hoch. Gaspar kam völlig aus der Puste auf der Dachterrasse an und musste erst mal frische Luft schöpfen. Rum wollte er keinen. Er war gekommen, um ein paar Fotos vom Sonnenuntergang zu machen, und musste dann gleich zu einem Empfang im Hotel Nacional. Dort wurde eine neue Tourismus-Zeitschrift vorgestellt.
»Gaspar, du bist wirklich mitten im guten Leben angekommen. Mann, das ist Klasse! Freut mich wirklich sehr.«
»Das ist genau mein Ding. Werbung, Tourismus, Gesellschaftsleben. Ich verdiene gut, kriege keine Probleme, hab nichts mit Politik zu tun, bin mit reichen Leuten zusammen, mit Ausländern …«
»Hast du ganz mit dem Journalismus aufgehört?«
»Total. Vor drei Jahren. Jetzt lebe ich wie nie zuvor, Kumpel. Mit Politik und Journalismus nagst du am Hungertuch, denn die Einzigen, die was vom Kuchen abkriegen, sind die, die ganz oben sitzen.«
»Irgendwie ist es schade.«
»Was denn?«
»Die Serie, die du da mal geschossen hast …«
»Kumpel, erwähn das lieber nicht, an die Phase meines Lebens will ich mich gar nicht erinnern, und auch nicht an die Fotos von damals.«
»Lass uns ein Buch zusammen machen und …«
»Nein, nein, nein! Zieh mich nicht in so was rein, und häng du dich selbst auch nicht da rein, Kumpel. Vergiss die Fotos. Schau mal, ich will dir was sagen: Zwischen einundneunzig und sechsundneunzig habe ich mindestens fünf- oder sechstausend Fotos von den schlimmsten Jahren in Havanna gemacht. Ich kam so weit, dass ich am
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