Der unersättliche Spinnenmann
herauszufinden, wo der Feind eindringen wird, um Brückenköpfe zu errichten. Auf dem Malecón wird Karneval gefeiert. Ein lahmer, alberner Karneval. Sechs Wochen lang im Juli und August, bei furchtbarer Hitze und ohne dass die Leute sich verkleiden oder so. Es sind nur Leute da, die trinken und essen, und Polizisten. Ist eher wie eine Karikatur von Karneval.
Ich warte ab, dass es ein bisschen kühler wird, und lese zum Zeitvertreib einen Artikel über die Massensterilisierung der Abenaki-Indianer in Vermont. In den zwanziger, dreißiger Jahren. Ein gewisser Henry Perkins und eine Kommission erklärten sie als »unzulänglich, kriminell, minderwertig«, und man sterilisierte sie, ohne dass sie es mitbekamen. Vermont muss heute eine total langweilige Gegend sein.
Hier gibt es keine Indianer, ein paar von uns Weißen überleben noch. Wenn ein schwarzer Nazi käme, könnte man uns in zwei Generationen ausrotten. Bis jetzt ist aber alles gut gegangen: Wir vermischen uns und produzieren Mulattinnen und Mulatten.
So gegen sechs zogen Wolken auf, und es begann zu regnen, mit ganz viel Wind. Ein starker Wolkenbruch. Ich schloss die Fenster und legte die »Zweite Symphonie« von Brahms in F-Dur auf. Dann schenkte ich mir ein Glas Rum ein und sah lange in den Regen hinaus, der aufs Meer und die Stadt niederprasselte. Ich gehe durch die Wohnung und dirigiere das Orchester. Allegro non troppo. Ich dirigiere absolut klasse. Das ist das Leben! Die Einsamkeit, die perfekte Musik, der Rum, die Gewalt des Wassers und der Donner. Und ich, strahlend und herrlich, wunderbares Exemplar meiner Art. Alle meine Frauen sind einfache Mädchen aus dem Viertel gewesen, die Symphonie und Oper verabscheuen. Aber das macht nichts. Hier bin ich allein. Und betrinke mich mit meinem Kumpel Brahms. Ich zog mir die Shorts und das T-Shirt aus und trat nackt auf die Dachterrasse, um mich von der kalten Sintflut durchweichen zu lassen. Blitz und Donner. Um mich her ist alles grau. Ein brutaler Sturzregen geht auf die Stadt nieder, und ich höre Brahms vibrieren. Allegro non spirito. Verdammt noch mal! Ich, der Beste von allen. Wer sagt denn, dass es das nicht wert ist?!
Es hörte auf zu regnen. Die Symphonie war zu Ende. Ich zog mich an und ging auf den Malecón, um dort weiterzutrinken. Eine riesige Menschenmenge war unterwegs, aus jedem Kiosk schallte eine andere Musik. Ein Lautsprecher der Polizei wiederholte andauernd, man solle einen LKW wegfahren, der falsch geparkt war. Ich kaufte einen Becher Rum und schlenderte weiter, bis ich einen ruhigeren Platz gefunden hatte. Dort setzte ich mich hin, trank und schaute dem Treiben zu. Als Kinder haben wir uns immer verkleidet und sind zusammen losgezogen und hatten einen Mordsspaß. Dann wurden die Kostüme verboten. Ich weiß nicht mehr, unter welchem Vorwand. Viele Dinge wurden in jener Zeit verboten, in den Sechzigern. Schließlich erreichten sie es, dass die Leute die Kostüme vergaßen. Heute weiß niemand mehr, was eigentlich Karneval ist. Jetzt trinken die Leute nur viel, essen wenig, rauchen, laufen umher und trinken immer mehr. Die Frauen und die Männer sehen sich in die Augen. Die Schwulen sehen sich in die Augen. Die Lesben. Die alten Männer und Frauen auch. Man kann die Geilheit förmlich spüren. Sie liegt in der Luft. Ist offensichtlich. Manchmal glaube ich, das Leben hier beschränkt sich wirklich auf Musik, Rum und Sex. Alles andere ist Landschaft.
Ich kippte ein paar Becher Rum und ging zu Gloria. Wenn ich allein so weitermachte, umherspazierte und trank, dann würde ich mich mit irgendeiner der fröhlichen, verführerischen und halb betrunkenen Mulattinnen einlassen. Heute Abend war ich nicht in der Stimmung für neue Leute.
Als ich ankam, bereitete Gloria gerade ein Kräuterbad vor, um ihren Bruder von schlechten Einflüssen zu befreien. Er hat ein Verhältnis mit einem Mexikaner, den er am Strand aufgerissen hat, wobei er es so angestellt hat, dass der Mexikaner meint, er sei der Eroberer gewesen. Jetzt ruft der Typ ihn drei oder vier Mal am Tag an, schickt ihm Geld und kümmert sich um die Papiere, um ihn nach Mexiko zu holen. Mein Schwager ist ein bildschöner Mulatte, ungefähr dreißig Jahre alt. Er studiert nicht, er arbeitet nicht, mag keine Frauen. Er will nur tanzen, lachen, Musik hören, wie ein Schmetterling umherflattern. Manchmal hab ich den Eindruck, man hat ihm das Gehirn amputiert. Seit er den Mexikaner aufgerissen hat, erzählt er allen Leuten:
»Der ist ganz
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