Der unmoegliche Mensch
auf den Riesen und hatte ihn vollkommen im Besitz, als wir um fünf Uhr weggingen. Sie bedeckten Arme und Beine wie ein dichter Möwenschwarm, der auf einem großen toten Fisch saß.
Drei Tage später besuchte ich den Strand das nächstemal. Meine Freunde in der Bibliothek waren an ihre Arbeit zurückgekehrt und hatten mir die Aufgabe übertragen, den Riesen unter Beobachtung zu halten und einen Bericht zu schreiben. Vielleicht spürten sie mein besonderes Interesse an dem Fall, und es war ja zweifellos richtig, daß ich darauf brannte, an den Strand zurückzukehren. Es war nichts Nekrophiles daran, denn für mich war der Riese noch so gut wie lebendig. Was mich so faszinierte, war natürlich seine ungeheure Größe, das riesige Volumen seiner Arme und Beine, das die Identität meiner eigenen Miniaturglieder zu bestätigen schien, aber vor allem die einfache Tatsache seiner Existenz. Was alles man sonst in unserem Leben wohl bezweifeln mochte, der Riese, ob tot oder lebendig, existierte in einem absoluten Sinn. Er bot uns einen kleinen Einblick in eine Welt von ähnlich absoluten Wesen, von denen wir Zuschauer am Strand nur unvollkommene und kümmerliche Nachahmungen waren.
Als ich am Strand ankam, war die Menge beträchtlich kleiner; etwa zwei- bis dreihundert Menschen saßen auf der Kiesbank, picknickten und beobachteten die Besuchergruppen, die über die Sandfläche hinauspilgerten. Die wiederholten Fluten hatten den Riesen näher an den Strand gebracht und Kopf und Schultern landwärts herumgeschwenkt, so daß er an Größe zugenommen zu haben schien. Die Fischerboote, die neben seinen Füßen auf Grund lagen, wirkten winzig neben dem riesigen Körper. Durch die Unebenheiten des Strandes war sein Rückgrat ein wenig durchgebogen worden, so daß der Brustkorb hervorgewölbt und der Kopf zurückgebogen war, wodurch ihm eine noch heroischere Haltung aufgezwungen worden war. Die Einwirkungen des Seewassers und die Aufschwemmung der Gewebe hatten dem Gesicht ein glatteres und weniger jugendliches Aussehen gegeben. Obwohl die ungeheuren Proportionen der Gesichtszüge es unmöglich machten, Alter und Charakter des Riesen zu beurteilen, hatten bei meinem vorherigen Besuch die klassischen Formen von Mund und Nase die Vermutung nahegelegt, daß es sich bei ihm um einen jungen Mann von besonnenem und bescheidenem Wesen handelte. Jetzt schien er allerdings wenigstens in einem mittleren Alter zu sein. Die aufgedunsenen Wangen, die dickere Nase, die volleren Schläfen und die verengten Augen gaben ihm das Aussehen wohlgenährter Reife, das schon jetzt einen weiteren Verfall andeutete.
Diese beschleunigte postmortale Entwicklung des Charakters des Riesen, als ob die latenten Elemente seiner Persönlichkeit während seines Lebens genügend Schwungkraft gespeichert gehabt hätten, um sich in einer kurzen abschließenden Zusammenfassung zu entladen, faszinierte mich unentwegt. Sie markierte den Beginn der Unterwerfung des Riesen unter das sich alles unterwerfende System der Zeit, in dem der Rest der Menschheit lebt, und dessen Endprodukte unsere begrenzten Lebensspannen sind, wie die Millionen kleiner Wasserwellen eines zerfallenden Strudels. Ich nahm einen Beobachtungsposten auf der Kiesbank genau gegenüber dem Kopf des Riesen ein, von wo aus ich die Neuankömmlinge und die Kinder sehen konnte, die auf Armen und Beinen herumkletterten.
Unter den Besuchern des Vormittags waren einige Männer in Lederjacken und Schirmmützen, die den Riesen mit kritischen, professionellen Blicken musterten, seine Größe abschritten und mit Treibholzstöcken einfache Berechnungen in den Sand schrieben. Ich hielt sie für Leute von der Baubehörde oder einer anderen städtischen Abteilung, die sich zweifellos Gedanken machten, wie dieser Koloß zu beseitigen sei.
Mehrere besser gekleidete Personen, Zirkusbesitzer oder so etwas, erschienen ebenfalls auf dem Schauplatz und schlenderten langsam um den Riesen herum, die Hände in den Taschen ihrer langen Mäntel, ohne miteinander zu sprechen. Offensichtlich war dieses Körpermaß sogar für ihre »einmaligen« Unternehmen zu groß. Als sie gegangen waren, rannten die Kinder wieder die Arme und Beine des Riesen hinauf und hinunter, und die Jungen balgten sich auf seinem Gesicht, daß der nasse Sand von ihren Füßen die weiße Haut bedeckte.
Am nächsten Tag verschob ich meinen Besuch absichtlich auf den späten Nachmittag, und als ich ankam, saßen knapp fünfzig bis sechzig Personen
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