Der unsichtbare Zweite
Erklärung, die du gestohlen, ja mit Gewalt geraubt hast, unter Umständen, die ...«
Er war außer sich, seine dicken, auberginenförmigen Hängebacken zitterten vor Empörung. Schon sah er die Schlagzeilen vor sich: Unglaublicher Zynismus des Onorevole Slucca, oder wahlweise: Abgeordneter frohlockt über das tragische Ende einer Großmutter und eines kleinen Mädchens. So im Rampenlicht zu stehen war ein Alptraum. Die Reporterin gab ihren Leuten ein Zeichen, die Gerätschaften einzupacken, ohne uns noch eines Blickes zu würdigen.
Sie hatte das Interview in der Tasche, sie konnte gehen.
»Sieh dich vor, Maria Laura«, rief Migliarini, der auch Rechtsanwalt ist, ihr nach. »Wenn dieser Bericht gesendet wird, zeige ich dich an, wir erheben Klage!«
»Erhebe du nur, erhebe du nur, soviel du willst«, sagte die Ex-Lauretta achselzuckend. Und fort war sie.
Aber dann war es gar nicht nötig, etwas zu erheben, der Bericht über die Flugzeugkatastrophe nahm natürlich fast den ganzen Raum ein, und dem Unfall der Großmutter haben sie kaum eine Minute gewidmet. Die beiden Tragödien sind ohne Verbindung geblieben, von mir war nicht die Rede, ich war nicht zu sehen.
»Gott sei Dank«, war am Tag darauf Migliarinis Kommentar, »ein falsches Wort bei den Medien, und du bist auf immer erledigt.«
»Aber ich habe das doch im Sinn von Schicksal gemeint, ich hätte auch von Schicksal sprechen können«, verteidigte ich mich.
»Lass bloß das Schicksal aus dem Spiel, ich bitte dich! Was hast du denn mit dem Schicksal zu tun, Slucca?«
Drei Tage danach schickte er mich, allerdings mit dem Zug, nach Civitavecchia, um bei der Beerdigung von Großmutter und Enkelin die Partei zu vertreten. Aber es war nur das Lokalfernsehen da, und in der Reportage war nur die Hälfte meines Nackens zu sehen.
SLUCCAS DIALOGE
»WO LEBST DU EIGENTLICH, SLUCCA?« fährt mich Migliarini manchmal an, er ist unbestritten der Chef unserer kleinen, aber zweckdienlichen Reißverschlusspartei (d. h. runtergezogen sind wir eine Regierungspartei, raufgezogen eine der Opposition). Es ist natürlich eine rhetorische Frage, denn er weiß sehr gut, wo ich, wörtlich genommen, lebe: Er selbst hat mir ja diese Zweizimmerwohnung in Monteverde Nuovo besorgt, die ich mit Onorevole Vasone teile, der wie ich nicht aus Rom stammt. Wir haben das Fax gemeinsam, das Telefon, den Computer, das Bad, die kleine Küche, die rumänische, schwarzarbeitende Putzfrau, und teilweise sogar unsere Parteivergangenheit; unsere politischen Wege haben sich nämlich einmal gekreuzt, und wir haben ungefähr eineinhalb Jahre in derselben Formation gestritten, die dann aufgelöst wurde. Darauf ist Vasone zu Onorevole Cirelli übergegangen, offiziell, weil er die Basiswerte dieser Gruppe teilte, in Wirklichkeit aber, weil er es nicht mehr ertragen konnte, für Migliarini als ballon d'essai zu fungieren.
Als ballon d'essai zu fungieren, als Versuchsballon (die Wendung wurde vor einem Jahrhundert von unseren französischen Kollegen erfunden und ist vielleicht in Paris längst außer Gebrauch, aber bei uns wird sie in gewissen Abständen immer wieder modern, wie der Aperitif Suze und der Astrachankragen), das ist eine, gelinde gesagt, undankbare Aufgabe. Deinem Chef kommt ein kühner, entschieden innovativer Einfall, zum Beispiel die Fiat nach Palermo zu verlegen, dem ganzen kurdischen Volk die italienische Staatsbürgerschaft zu gewähren, aus Steuergründen jedem Fußgänger, der die öffentlichen Bürgersteige abnutzt, das Tragen eines Schrittzählers zu verordnen. Er, der Chef, ist sich im Klaren darüber, dass der Vorschlag gewagt ist, dass er negative Reaktionen auslösen kann, und daher macht er ihn nicht direkt, sondern befiehlt einem seiner Leute, ihn vorzubringen, ihn ganz beiläufig und wie zufällig bei einer nicht allzu wichtigen Tagung zu erwähnen. Manchmal hebt der Ballon gar nicht vom Boden ab, andere Male wird er mit vorsichtigem Interesse begrüßt, mit dem Satz: »Darüber ließe sich diskutieren«, oder nachgerade, und das ist das höchste der Gefühle, mit der Einladung, »sich damit an einen runden Tisch zu setzen«. Aber meistens wird aufs heftigste in den Ballon hineingestochen, d. h., die anderen Politiker schreien sofort etwas von inpraktikablem Weg, von inakzeptabler Provokation, in anderen Worten: von Kackmist, mit dem man unsere Nationalparks düngen könnte. An diesem Punkt lässt der Chef durchblicken, dass er mit diesem Einfall nichts zu tun habe, dass es
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