Der Untergang der islamischen Welt
ungelösten Konflikte in der islamischen Welt, von Tschetschenien bis Palästina, lassen dort Verschwörungstheorien über die hegemonialen Ansprüche und Bemühungen des Westens wuchern. Während viele Europäer die Islamisierung Europas und den Untergang des Abendlandes beschwören, sehen sich viele Muslime eher als Opfer eines westlichen Masterplans, der die totale Kontrolle über die Ressourcen der Muslime und die Unterwanderung ihrer Heiligtümer vorsieht.
Diese beiden Wahrnehmungen haben viel mit dem eigenen Selbstbild zu tun. Es rührt von den eigenen Ängsten, Unzulänglichkeiten und der Projektion der eigenen Geschichte auf den anderen her. Die eine Seite blickt ohne Zuversicht in die Zukunft und hat die Gefahren der Vergangenheit vor Augen: mittelalterlicher Fanatismus, Religionskriege, Türken vor Wien. Auf der anderen Seite leckt man die eigenen, aus der Vergangenheit stammenden Wunden und beweint die traumatischen Erfahrungen mit Kreuzzügen und Kolonialismus. Es herrscht Paranoia auf beiden Seiten einer schier unüberwindlichen geistigen Mauer. Aber die Tatsache, dass jemand paranoid ist, heißt noch lange nicht, dass die anderen nicht wirklich hinter ihm her sind!
Was den Islam betrifft, mag er in seinem jetzigen Zustand alles Mögliche sein, nur eines ist er meines Erachtens gewiss nicht: Er ist nicht mächtig. Er ist im Gegenteil schwer erkrankt und befindet sich sowohl kulturell als auch gesellschaftlich auf dem Rückzug. Die religiös motivierte Gewalt, die zunehmende Islamisierung des öffentlichen Raums und das krampfhafte Beharren auf der Sichtbarkeit der islamischen Symbole sind nervöse Reaktionen dieses Rückzugs. Der Vormarsch des Islamismus ist bloß eine aufgeregte Mobilisierung und, wie Spengler schreibt: »Wehe denen, die die Mobilmachung mit dem Sieg verwechseln.« Es sind klare Zeichen des Mangels an Selbstbewusstsein und Handlungsoptionen. Es handelt sich nur um das verzweifelte Anstreichen eines Hauses, das kurz davor steht, in sich zusammenzustürzen. Aber auch der Zusammenbruch eines Hauses bleibt gefährlich, und das nicht nur für seine Bewohner.
Aus der Geschichte lernen wir zwar, dass eine Kultur nicht durch Prinzipien, sondern durch eine noch jüngere, überlegene Kultur abgelöst wird und dass die ehrgeizigen, kampflustigeren »Barbaren« immer am Ende gegen die dekadenten, kampfmüden »Zivilisierten« siegen. Spengler nennt das Prinzip »Blut« als maßgebend für die Mobilisierung der Kämpfer, bei Ibn Khaldun ist es
asabiyya,
das bedeutet »Stammesbewusstsein«. Beide Begriffe können durch die »Religion« wenn nicht ersetzt, so doch ergänzt werden. Blut, Stammesbewusstsein, Religion: Dem mögen die satten, von der Zivilisation verwöhnten Bewohner der großen Städte nichts entgegenzusetzen gehabt haben in Zeiten, als Kriege und territoriale Konflikte in offener Feldschlacht, im Kampf Mann gegen Mann, Heer gegen Heer entschieden wurden.
Doch im Zeitalter der Globalisierung, des Internets, der Nanotechnologie und der schmutzigen Bombe können uns die Geschichte und die Geschichtsphilosophie nur bedingt weiterhelfen. Sie können uns zeigen, wo wir jetzt stehen und warum wir da stehen. Doch über die Zukunft der Kulturen können sie nur vage Hinweise geben. Deshalb interessierte mich beim zweiten Lesen des »Untergangs des Abendlandes« weniger die Prognose an sich als die Analyse des Wegs.
Der Logik der Geschichte folgend, hätte die islamische Kultur spätestens nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts von der Erdoberfläche verschwinden müssen. Nach der Abschaffung des Kalifats deutete alles darauf hin, dass die Idee des Gottesstaats durch die des modernen Nationalstaats endgültig ersetzt würde, so dass alte patriarchalische Herrschaftsmuster keine Chancen mehr hätten. Doch die Gründung der Muslimbruderschaft in Ägypten im Jahr 1928 und die Entdeckung des Erdöls in Saudi-Arabien kurze Zeit danach reichten offenbar aus, um das Verschwinden des Islam aufzuhalten. Das unerwartete Geld, die Privatisierung des Dschihad und das Florieren des radikalen Wahhabismus schienen dem politischen Islam einen gewaltigen neuen Schub gegeben zu haben. Oder sollten diese Ereignisse nichts anderes als die künstliche Beatmung einer Kultur gewesen sein, die ihren Zenit längst überschritten hatte und bereits im Sterbebett lag?
Über die Zukunft der islamischen Welt zu sprechen ist nicht weniger leicht, als Gewissheit
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