Der Untergang der islamischen Welt
sind auch die Reformisten vom Text des Korans besessen. Während die Terroristen im heiligen Buch nach Rechtfertigung für Gewalt suchen und finden, stöbern auch Liberale nach friedfertigen Passagen, die das Zusammenleben ermöglichen. Beide stärken damit die Autorität eines Buches, das für die Bedürfnisse einer vormodernen Gemeinde aus dem siebten Jahrhundert entstanden war und im einundzwanzigsten Jahrhundert nichts zu suchen hat. Bei diesen Reformern fehlen die letzte Konsequenz und der Mut, dafür zu plädieren, den Koran endgültig zu entmachten und aus dem politischen Diskurs zu verbannen. Die katholische Kirche hat sich nicht selbst von innen reformiert, sondern wurde von außen gedrängt, sich zu verändern. Erst als sie die Macht verlor, verhandelte sie ihre neue Rolle in der Gesellschaft aus einer Position der Schwäche heraus. Das Gleiche muss auch mit dem Koran geschehen. Erst muss die Haltung zu ihm als dem unveränderlichen Wort Gottes hinterfragt werden, bevor eine historisch-kritische Exegese möglich wird.
Für eine zeitgemäße Interpretation des Korans und eine Annäherung an die Moderne plädieren die selbsternannten Reformer und betonen im gleichen Atemzug, die eigene Tradition und kulturelle Eigenständigkeit nicht zu opfern. Genau das machte Bin Laden. Er löste sich von der traditionellen Interpretation des Korans, die eine Rebellion gegen den Herrscher nicht zulässt. Durch eine Hermeneutik des Korans gelang es ihm, den Dschihad zu privatisieren und den Massenmord an Zivilisten zu rechtfertigen. Auch er nähert sich der Moderne und bedient sich modernster Technik, ohne sich das Gedankengut, das dahintersteckt, zu eigen zu machen.
Die Islamreformer tanzen auf der Treppe zwischen Ost und West. Die, die im Erdgeschoss sind, sehen sie nicht, und die, die oben sind, bekommen von ihrem Tanz nichts mit. Sie flirten mit der Moderne, wollen mit ihr hemmungslosen Sex ohne Verhütung haben und dennoch nicht davon schwanger werden. Sie tänzeln einen Schritt nach vorne und zwei nach hinten und vermitteln die Illusion einer Dynamik. Ein Teil der Verwirrung und Stagnation in der islamischen Welt ist diesen Reformern zuzuschreiben.
Politische Reformer sind da nicht viel anders. Regelmäßig wechselt Mubarak sein Kabinett aus. Kein Mensch weiß, nach welchen Kriterien er Minister ernennt oder feuert. Oft bleiben Minister Jahrzehnte im Amt, die offensichtlich ineffektiv und vom Volk ungeliebt sind, wie etwa der Kulturminister, der seit fünfundzwanzig Jahren im Amt ist. Oft aber verschwinden reformorientierte Minister, kurz nachdem sie einen Reformplan vorgeschlagen haben, wie die frühere Sozialministerin Al-Talawi, die einen Plan für Sozialversicherungen für zweihundertfünfzigtausend Ägypter einreichte, die in bitterer Armut lebten.
»Es gibt keine Armen in Ägypten«, sagte der damalige Premierminister, der ihren Antrag ablehnte. Stattdessen musste das dafür vorgesehene Geld an der Börse investiert werden. Bei der nächsten Kabinettsumbildung war die Ministerin nicht mehr dabei. Und so versteht jeder, der ein Ministeramt bekleidet, dass es nicht darum geht, etwas Innovatives zustande zu bringen, sondern Loyalität zu beweisen. Deshalb bleiben hochrangige Verantwortliche mit ihren neuen Ideen zurückhaltend und werden somit Vorbild für ihre Beamten. Keiner traut sich zu, dem Herrscher oder dem Vorgesetzten schlechte Nachrichten zu überbringen oder ihn mit Denkanstößen zu belästigen.
Der damalige Präsident Sadat wollte in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts nach jahrelanger Alleinherrschaft des sozialistischen Präsidenten Nasser die Demokratie einführen. Er gründete eine Partei namens »Ägypten«, deren Präsident er wurde, die naturgemäß bei den ersten Wahlen die absolute Mehrheit im Parlament erreichen konnte. Kurz danach verließ der Präsident diese Partei und wechselte zur Nationalpartei. Mit ihm gingen alle Abgeordneten und Mitglieder der Ägypten-Partei, und die neue hatte sofort die Mehrheit. Die Ägypten-Partei existiert heute nicht mehr. Die Nationalpartei regiert dagegen seit über vier Jahrzehnten unangefochten.
Die politischen Reformer denken, in der Demokratie komme es auf Verfassung und Wahlrecht an, die religiösen Reformkräfte führen die Misere auf eine falsche Auslegung des Korans zurück.
Eine Reform würde für mich aber bedeuten, die Kette, die das starre System stützend umspannt, zu sprengen. Diese Kette besteht aus dem verankerten
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