Der Untergang der Shaido
es, zu den Türmen hochzuschauen.
»Du da, Junge«, sagte Desala in glockenhellem Tonfall. Glocken, die vor Wut läuteten. Die sicherste Methode, ihr Temperament in Wallung zu bringen, bestand darin, einem Kind zu schaden. »Du solltest zu Hause sein, wo deine Mutter dich das Schreiben lehrt. Was tust du hier?« Der Junge wurde knallrot und strich sich wieder das Haar aus der Stirn.
»Saml ist schon in Ordnung, Aes Sedai«, sagte der Saldaeaner und klopfte dem Jungen auf die Schulter. »Er lernt schnell, und man muss ihm nichts zweimal zeigen, damit er es beherrscht.« Der Junge stand sehr gerade da, Stolz auf dem Gesicht, und steckte die Daumen hinter den Schwertgürtel. Ein Schwert, in seinem Alter! Sicher, der Sohn eines Adligen würde in Saml alʹSeens Alter schon seit Jahren den Umgang mit dem Schwert erlernen, aber man würde ihm nicht erlauben, das Ding in der Öffentlichkeit zu tragen!
»Pevara«, sagte Tarna kühl, »keine Kinder. Ich wusste, dass sie Kinder hier haben, aber keine Kinder.«
»Beim Licht!«, keuchte Melare. Ihre weiße Stute spürte ihre Anspannung und warf den Kopf zurück. »Mit Sicherheit keine Kinder!«
»Das wäre abscheulich«, sagte Jezrail.
»Keine Kinder«, stimmte Pevara schnell zu. »Ich glaube, wir sollten nichts mehr sagen, bevor wir Meister… den MʹHael gesprochen haben.« Javindhra schnaubte.
»Keine Kinder, Aes Sedai?«, fragte Enkazin stirnrunzelnd.
»Wieso keine Kinder?«, fragte er erneut, als er keine Antw ort erhielt.
Jetzt erschien er weniger wie ein Schreiber. Die gebeugte Haltung blieb, aber etwas in seinen schräg stehenden Augen erschien plötzlich… gefährlich. Hielt er die männliche Hälfte der Macht? Die Möglichkeit ließ Pevara frösteln, aber sie widerstand dem Wunsch, Saidar zu umarmen. Einige Männer, die die Macht lenken konnten, schienen spüren zu können, wenn eine Frau sie hielt. Enkazin sah jetzt aus, als könnte er sehr schnell übereilt reagieren.
Sie warteten in aller Stille, abgesehen vom gelegentlichen Hufscharren. Pevara zwang sich zur Geduld, Javindhra murmelte etwas vor sich hin. Pevara konnte die Worte nicht verstehen, aber sie erkannte wütendes Gemurmel, wenn sie es hörte. Tarna und Jezrail holten Bücher aus den Satteltaschen und lasen. Gut. Sollten diese Ashaʹman sehen, dass sie unbesorgt waren. Leider erschien nicht einmal der Junge beeindruckt. Er und der Saldaeaner standen einfach in der Mitte des Tors und beobachteten sie, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
Nach vielleicht einer halben Stunde öffnete sich ein größ eres Wegetor, und der Murandianer trat hindurch. »Der MʹHael wird Euch im Palast empfangen, Aes Sedai. Geht durch.« Er deutete mit dem Kopf auf die Öffnung.
»Zeigt Ihr uns den Weg?«, fragte Pevara und stieg ab. Das Wegetor war größer, aber sie hätte sich ducken müssen, wenn sie geritten wäre.
»Auf der anderen Seite wartet jemand, der Euch führt.« Er bellte ein Lachen. »Der MʹHael gibt sich nicht mit meinesgleichen ab.« Pevara merkte sich das, um später darüber nachzudenken.
Sobald die Letzte von ihnen hindurch und in der Nähe der weißen Steinplattform mit dem spiegelhellen schwarzen Stein war, schloss sich das Tor wieder, aber sie waren nicht allein. Vier Männer und zwei Frauen in schlichter Wolle übernahmen die Zügel der Pferde, und ein dunkelhäutiger, schwergewichtiger Mann mit dem Silberschwert und einer schlangenhaften Figur in Rot und Gold, einem Drachen, am hohen Kragen, deutete eine Verbeugung an.
»Folgt mir«, sagte er knapp mit einem tairenischen Akzent. Seine Augen waren stechend wie Dolche.
Der Palast, von dem der Murandianer gesprochen hatte, war genau das, zwei Stockwerke aus weißem Marmor, die von Spitzkuppeln und Türmen im saldaeanischen Stil gekrönt wurden. Ein großer, ungepflasterter Platz trennte ihn von der weißen Plattform. Es war kein verhältnismäßig großer Palast, aber die meisten Adligen lebten in bedeutend kleineren und wenig großartigen Häusern. Breite Steinstufen führten zu einem großzügigen Treppenabsatz vor einer hohen Flügeltür. Jede davon zeigte eine Faust in einem Panzerhandschuh, die drei Blitze hielt; die Schnitzereien waren groß und vergoldet. Die beiden Flügel schwangen auf, bevor der Tairener sie erreichte, aber es waren keine Diener zu sehen. Der Mann musste die Macht benutzt haben. Pevara verspürte wieder dieses Frösteln. Javindhra murmelte etwas Unhörbares. Diesmal klang es nach einem Gebet.
Der Palast hätte
Weitere Kostenlose Bücher