Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
Vom Netzwerk:
allzulange
Männer und Weiber – zur Welt geboren
Aber wir beide – bleiben zusammen
Ich und Sigurd.
    Die Akzente des homerischen Verses sind das leise Zittern eines Blattes in der Mittagssonne,
Rhythmus der Materie
; der Stabreim – wie die potentielle Energie im Weltbilde der modernen Physik – schafft eine verhaltene Spannung im Leeren, Grenzenlosen, ferne Gewitter in Nächten über den höchsten Gipfeln. In seiner wogenden Unbestimmtheit lösen sich alle Worte und Dinge: das ist sprachliche Dynamik, nicht Statik. Und das gleiche gilt von den schwermütigen Rhythmen des »Media vita in morte sumus«. Hier kündigen sich die Farben Rembrandts und die Instrumentation Beethovens an. Hier
wird die grenzenlose Einsamkeit als die Heimat der faustischen Seele empfunden
. Was ist Walhall? Es wurde, den Germanen der Völkerwanderung und selbst noch der Merowingerzeit unbekannt, von der erwachenden faustischen Seele erdacht, sicherlich unter Eindrücken des antik-heidnischen und das arabisch-christlichen Mythos der beiden älteren südlichen Kulturen, die mit ihren klassischen oder heiligen Schriften, ihren Ruinen, Mosaiken, Miniaturen, ihren Kulten, Riten und Dogmen überall in das neue Leben hereinragten. Und trotzdem schwebt Walhall jenseits aller fühlbaren Wirklichkeiten, dunklen, faustischen Regionen. Der Olymp ruht auf der nahen griechischen Erde; das Paradies der Kirchenväter ist ein Zaubergarten irgendwo im magischen Weltall. Walhall ist nirgends. Es erscheint, im Grenzenlosen verloren, mit seinen ungeselligen Göttern und Recken, als das ungeheure Symbol der Einsamkeit. Siegfried, Parzival, Tristan, Hamlet, Faust sind die einsamsten Helden aller Kulturen. Man lese in Wolframs Parzival die wundervolle Erzählung vom Erwachen des Innenlebens. Die Waldsehnsucht, das rätselhafte Mitleid, die unnennbare Verlassenheit: das ist faustisch und nur faustisch. Jeder von uns kennt das. In Goethes Faust kehrt das Motiv in seiner ganzen Tiefe wieder:
Ein unbegreiflich holdes Sehnen
Trieb mich durch Wald und Wiesen hinzugehn,
Und unter tausend heißen Tränen
Fühlt' ich mir eine Welt erstehn.
    Von diesem Welterlebnis weiß der apollinische und magische Mensch nichts, weder Homer noch die Evangelien. Der Höhepunkt der Dichtung Wolframs ist jener wunderbare Karfreitagmorgen, wo der mit Gott und sich zerfallene Held den edlen Gawan trifft. »Wie, wenn bei Gott ich Hilfe fände?« Und er pilgert zu Tevrezent. Hier liegt die Wurzel
der faustischen Religion
. Hier begreift man das Wunder der Eucharistie, das die Teilnehmenden zu einer mystischen Gemeinschaft, zur alleinseligmachenden Kirche verbindet. Man begreift aus dem Mythos vom heiligen Gral und seiner Ritterschaft die innere Notwendigkeit des germanisch-nordischen Katholizismus. Gegenüber den antiken Opfern, die jeder Einzelgottheit in ihrem Tempel gebracht wurden, erscheint hier das
eine, unendliche
Opfer, das sich überall und täglich wiederholt. Das ist eine faustische Idee des 9.-12. Jahrhunderts, der Eddazeit, von den angelsächsischen Missionaren wie Winfried vorgeahnt, aber erst damals zur Reife gediehen. Der Dom, dessen Hochaltar das vollzogene Wunder umschließt, ist ihr steingewordener Ausdruck. [Vgl. Bd. II, S. 917.]
    Die Vielheit einzelner Körper, als welche der antike Kosmos sich darstellt, fordert eine gleichartige Götterwelt: dies ist der Sinn des antiken Polytheismus. Der
eine
Weltraum, sei er Welthöhle oder Weltweite, fordert den
einen
Gott des magischen oder faustischen Christentums. Athene und Apollon können durch eine Statue dargestellt werden, aber man hat längst gefühlt, daß die Gottheit der Reformation und Gegenreformation nur im Sturm einer Orgelfuge oder dem feierlichen Schritt einer Kantate und Messe »erscheinen« kann. Von der Gestaltenfülle der Edda und der gleichzeitigen Heiligenlegende bis auf Goethe entwickelt sich der Mythos dem antiken entgegengesetzt. Hier eine immer weitergehende Zerfällung des Göttlichen bis zu der unübersehbaren Göttermenge der frühen Kaiserzeit, dort eine Vereinfachung bis zum Deismus des 18. Jahrhunderts.
    Die magische, auf dem Gebiet der westlichen Pseudomorphose [Vgl. Bd. II, S. 800.] von der Kirche mit dem vollen Gewicht ihrer Autorität gedeckte himmlische Hierarchie von den Engeln und Heiligen an bis zu den Personen der Dreifaltigkeit entkörpert sich, verblaßt mehr und mehr, und unvermerkt verschwindet auch der Teufel, der große Gegenspieler im gotischen Weltdrama, [Vgl. Bd. II, S. 912ff.]

Weitere Kostenlose Bücher