Der Untergang des Abendlandes
Schicksalsidee. Das ägyptische Dasein ist das eines
Wanderers
in einer und immer der gleichen Richtung; die gesamte Formensprache seiner Kultur dient der Versinnlichung dieses einen Motivs. Sein Ursymbol läßt sich, neben dem unendlichen
Raum
des Nordens und dem
Körper
der Antike, durch das Wort
Weg
am ehesten faßlich machen. Es ist dies eine sehr fremdartige und dem abendländischen Denken schwer zugängliche Art, im Wesen der Ausdehnung die Tiefenrichtung
allein
zu betonen. Die Grabtempel des Alten Reiches, vor allem die gewaltigen Pyramidentempel der 4. Dynastie stellen nicht wie Moschee und Dom einen sinnvoll gegliederten Raum dar, sondern eine rhythmisch gegliederte
Folge
von Räumen. Der heilige Weg führt vom Torbau am Nil durch Gänge, Hallen, Arkadenhöfe und Pfeilersäle sich stets verengend bis zur Totenkammer, [Hölscher, Grabdenkmal des Königs Chephren; Borchardt, Grabdenkmal des Sahu-rê; Curtius, Die antike Kunst, S. 45.] und ebenso sind die Sonnentempel der 5. Dynastie kein »Gebäude«, sondern ein von mächtigem Gestein eingefaßter Weg. [Vgl. Bd. II, S. 900; Borchardt, Reheiligtum des Newoserrê; Ed. Meyer, Gesch. d. Altertums I, § 251.] Die Reliefs und Gemälde erscheinen stets in Reihen, die mit eindringlichem Zwang den Betrachter in einer bestimmten Richtung geleiten; die Widder- und Sphinxalleen des Neuen Reiches wollen dasselbe. Für den Ägypter war das über seine Weltform entscheidende Tiefenerlebnis so streng hinsichtlich der Richtung betont, daß der Raum gewissermaßen in steter Verwirklichung begriffen blieb. Diese Ferne ist
nicht
erstarrt. Nur indem der Mensch sich vorwärts bewegt und damit selbst zum Symbol des Lebens wird, tritt er in Beziehung zu dem steinernen Teil dieser Symbolik. »Weg« bedeutet zugleich Schicksal und dritte Dimension. Die mächtigen Wandflächen, Reliefs, Säulenreihen, an denen er vorüberführt, sind »Länge und Breite«, d.h. die bloße Empfindung der Sinne, die das vorwärtsdringende Leben erst zur Welt
dehnt
. So erlebt der im Prozessionszuge schreitende Ägypter den Raum gewissermaßen in seinen noch unvereinigten Elementen, während ihn der
vor
dem Tempel opfernde Grieche nicht empfand und er den im Dom betenden Menschen der gotischen Jahrhunderte in ruhender Unendlichkeit umgibt. Deshalb will diese Kunst
Flächenwirkung
und nichts anderes, auch dort, wo sie sich körperhafter Mittel bedient. Für den Ägypter war die Pyramide über dem Königsgrab ein
Dreieck
, eine ungeheure, den Weg abschließende, die Landschaft beherrschende
Fläche
von stärkster Kraft des Ausdrucks, von wo aus er auch sich ihr näherte; die Säulen der inneren Gänge und Höfe, auf dunklem Hintergrunde, von dichtester Aufstellung und mit Schmuck überdeckt, wirkten durchaus als vertikale Flächenstreifen, die den Zug der Priester rhythmisch begleiteten; das Relief ist peinlich – und sehr im Gegensatz zum antiken – in eine Fläche gebannt; in der Entwicklung von der 3. zur 5. Dynastie nimmt es von Fingerstärke bis zur Papierdünne ab und wird zuletzt in die Fläche
versenkt
. [Relief en creux, vgl. H. Schäfer, Von ägyptischer Kunst (1919), I, S. 41.] Die Herrschaft der Horizontale, der Vertikale und des rechten Winkels, das Vermeiden jeder Verkürzung unterstützen das zweidimensionale Prinzip und isolieren das Erlebnis der Raumtiefe, die mit der Wegrichtung und dem Ziel – dem
Grabe
– zusammenfällt. Diese Kunst gestattet keine die Spannung der Seele erleichternde Ablenkung.
Ist es nicht dies – in der erhabensten Sprache ausgedrückt, die überhaupt gedacht werden kann –, was in all unsern Raumtheorien sich aussprechen möchte? Es ist eine Metaphysik in Stein, neben der die geschriebene – diejenige Kants – wie ein hilfloses Stammeln wirkt.
Trotzdem gab es eine Kultur, deren Seele bei aller tiefinnerlichen Verschiedenheit zu einem verwandten Ursymbol gelangte: die chinesische mit dem ganz im Sinne der Tiefenrichtung empfundenen Prinzip des Tao. [Vgl. Bd. II, S. 910f.] Aber während der Ägypter den mit eherner Notwendigkeit vorgezeichneten Weg zu Ende schreitet,
wandelt
der Chinese durch seine Welt; und deshalb geleiten ihn nicht steinerne Schluchten mit fugenlos geglätteten Wänden der Gottheit oder dem Ahnengrabe zu, sondern die freundliche Natur selbst. Nirgends ist die
Landschaft
so zum eigentlichen Stoff der Architektur geworden. »Es hat sich hier eine großartige Gesetzhaftigkeit und Einheit aller Bauwerke auf religiöser Grundlage entwickelt,
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