Der Untergang des Abendlandes
aus ihrer Begriffssprache heraus mit derselben Feinheit der Beweisführung widerlegen können, wie Kant sie, und beide wären von der Richtigkeit ihrer Aspekte überzeugt geblieben.
Wenn wir heute vom Raume reden, so denken wir sicherlich alle in annähernd demselben Stil, so wie wir uns derselben Sprachen und Wortzeichen bedienen, mag es sich um den Raum der Mathematik, der Physik, der Malerei oder der Wirklichkeit handeln, obgleich alles Philosophieren, das an Stelle dieser Verwandtschaft der Bedeutungsgefühle eine Identität des Verstehens behaupten will (und muß), etwas Fragwürdiges bleibt. Aber kein Hellene, kein Ägypter, kein Chinese hätte etwas davon gleichartig nachgefühlt, und kein Kunstwerk oder Gedankensystem hätte ihnen unzweideutig zeigen können, was »Raum« für uns bedeutet. Die antiken Urbegriffe, aus einem ganz anders gearteten Innenleben stammend wie αρχη, υλη, μορφη, erschöpfen den Gehalt einer anders angelegten Welt, die uns fremd und fern bleibt. Was wir mit unseren eigenen Sprachmitteln als Ursprung, Stoff, Form aus dem Griechischen übersetzen, ist eine flache Anähnlichung, ein matter Versuch, in eine Gefühlswelt einzudringen, die in ihrem Feinsten und Tiefsten doch stumm bleibt; es ist, als wollte man die Parthenonskulpturen für Streichmusik setzen oder den Gott Voltaires in Bronze gießen. Die Grundzüge des Denkens, Lebens, Weltbewußtseins sind so verschieden wie die Gesichtszüge der einzelnen Menschen; auch in bezug darauf gibt es »Rassen« und »Völker«, und sie wissen so wenig darum, wie sie bemerken, ob »rot« oder »gelb« für andre dasselbe oder etwas ganz andres ist; die gemeinsame Symbolik vor allem der Sprache nährt die Illusion eines gleichartig angelegten Innenlebens und einer identischen Weltform. Die großen Denker der einzelnen Kulturen sind hierin den Farbenblinden ähnlich, die ihren Zustand nicht kennen und von denen einer über die Irrtümer des andern lächelt.
Und nun ziehe ich die Folgerung. Es gibt eine Vielzahl von Ursymbolen. Das Tiefenerlebnis, durch das die Welt wird, durch das die Empfindung sich zur Welt dehnt, bedeutsam für die Seele, der es angehört, und für sie allein, anders im Wachen, Träumen, Hinnehmen und Beobachten, anders bei Kind und Greis, Städter und Bauer, Mann und Weib, verwirklicht und zwar mit tiefster Notwendigkeit für jede hohe Kultur die Möglichkeit der Form, auf der ihr gesamtes Dasein beruht. Alle Grundworte wie Masse, Substanz, Materie, Ding, Körper, Ausdehnung und die Tausende in den Sprachen andrer Kulturen aufbewahrten Wortzeichen entsprechender Art sind wahllose, vom Schicksal bestimmte Zeichen, welche aus der unendlichen Fülle von Weltmöglichkeiten im Namen der einzelnen Kultur die einzig bedeutende und deshalb notwendige herausheben. Keines ist in das Erleben und Erkennen einer andern Kultur genau übertragbar. Keines dieser Urworte kehrt nochmals wieder. Die Wahl des Ursymhols in jenem Augenblick, wo die Seele einer Kultur in ihrer Landschaft zum Selbstbewußtsein erwacht, die für jeden, der Weltgeschichte so zu betrachten vermag, etwas Erschütterndes hat, entscheidet alles.
Kultur als Inbegriff des sinnlich-gewordenen Ausdrucks der Seele in Gebärden und Werken, als ihr Leib, sterblich, vergänglich, dem Gesetz, der Zahl und der Kausalität verfallen; Kultur als historisches Schauspiel, als Bild im Gesamtbilde der Weltgeschichte; Kultur als Inbegriff großer Sinnbilder des Lebens, Fühlens und Verstehens: das ist die Sprache, durch welche allein eine Seele sagen kann, was sie leidet.
Auch der Makrokosmos ist Eigentum einer einzelnen Seele, und wir werden nie wissen, wie es um den der andern steht. Was – über alle Möglichkeiten begrifflicher Verständigung hinausgreifend – »der unendliche Raum«, diese schöpferische Deutung des Tiefenerlebnisses durch uns Menschen des Abendlandes und uns allein, besagen will, diese Art von Ausdehnung, welche die Griechen das Nichts nannten und wir das All, taucht unsre Welt in eine Farbe, welche die antike, die indische, die ägyptische Seele nicht auf ihrer Palette hatten. Die eine Seele erlauscht das Welterlebnis in As-Dur, die andere in F-Moll; die eine empfindet es euklidisch, die zweite kontrapunktisch, die dritte magisch. Vom reinsten analytischen Raume und vom Nirwana führt eine Reihe von Ursymbolen bis zur leibhaftigsten attischen Körperlichkeit, deren jedes fähig ist, eine vollkommene Weltform aus sich zu bilden. So fern, seltsam und
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